Arbeitswelt

Depression und Leistungsdruck am Arbeitsplatz

Maria Z., Betroffene

Lächeln, zusammenreissen, aufgestellt sein, Power, selbstbewusst sind nur einige Schlagwörter in der heutigen Gesellschaft. - Aufstehen, zur Arbeit gehen, lächeln, gut gelaunt sein, sich zusammennehmen. Diese Gedanken halten mich wie Krallen fest und drücken mich zurück ins Bett.

Die eine Seite schreit: Du musst aufstehen! Die andere schreit: Ich will, aber ich kann nicht! Jeden Morgen die gleiche Prozedur. Welche Seite ist heute die stärkere. Ich schreie: Ich will! Meine Seele schreit: Ich kann nicht mehr!

Jeden Tag pendle ich mit dem Zug zwischen meinem Wohnort und Arbeitsort, eine Stunde pro Weg. Nur schon der Gedanke, wie komme ich zum Bahnhof, löst eine grosse Angst aus. Es folgen Herzrasen, Druckgefühle im Magen, Schwindel und Panikattacken. Da ich Antidepressiva nehme, sollte ich nicht Autofahren. Aber der Gedanke, mich am Morgen in einen vollbesetzten Bus zum Bahnhof zu setzen, löst wiederum Platzangst, Angst vor Menschen, aus. So nehme ich das Auto, nur damit niemand merkt, wie es mir geht, und so kann ich mich unter Kontrolle halten. Sobald ich im Zug sitze, werde ich ruhiger bis zum Moment, da ich mich in der Menschenmenge zum Bahnhofausgang begeben muss. Im Büro angekommen atme ich tief durch, damit ich ein Lächeln hervorbringen und ein fröhliches "Guten Morgen" sagen kann.

In meinen Job habe ich mit jungen Menschen und zugleich mit Kaderleuten zu tun. Ich muss präsent, stark, ruhig, gelassen und ein Vorbild sein. Ich bin in mir gefangen, hoffentlich merkt es niemand, ich bin unruhig. Ich komme mir vor wie ein Tier im Käfig. Ich bin gefangen, ich möchte mich befreien.

Die normalste Tätigkeit wird zum Hindernislauf. Ich brauche manchmal doppelt, fast dreimal so lang, um kleinste Alltagsverrichtungen erledigen zu können. Wie ist dies möglich? Arbeitsabläufe, die ich im Schlaf kenne, gehen nicht mehr. Mein Selbstwertgefühl sinkt immer tiefer. Man kann mich nicht brauchen. Das Schizophrene an der Sache ist, dass ich trotz allem gelobt werde. Meine Zuverlässigkeit und Kompetenz werden geschätzt und erleiden keine Beeinträchtigung. Mein Perfektionismus steht mir im Wege. Nur mit viel Kraft und Energie erbringe ich die Leistung. Ich will immer alles 120 Prozent gut machen.

Ich bekomme gut gemeinte, aber meist wenig hilfreiche Ratschläge. Sprüche wie "Reiss dich zusammen" oder "Nun freu dich doch über das schöne Wetter" sind sehr verletzend. Immer wieder zweifle ich an meinem Willen, der bekanntlich sehr stark ist. Wo ist der geblieben? Ich bin ein Versager. Ich weiss einfach, dass es nicht geht. Wie kann ich die anderen davon überzeugen, dass ich Angst habe. Die Angst vor der Angst nimmt jeden Tag zu, je grösser der Druck wird, nicht zu genügen. Ich wünschte mir sehnlichst, dass man mich nur ein bisschen verstehen könnte. Am Abend arbeite ich, weil ich Angst vor dem Alleinsein habe. Ich warte, bis es dunkel wird und gehe dann nach Hause. Ich brauche die Arbeit um zu überleben.

Der Druck der anderen Mitarbeiter - vor allem Frauen - wird immer grösser. Ich sei nicht mehr tragbar. Wer will schon jemand im Team, der negativ denkt, der nicht für lustige Sprüche aufgelegt ist. Für ein gemeinsames Mittagessen hat man dann bald auch keine Zeit mehr. Ich bin nicht gesprächig genug.

Es gibt Tage, da kann ich nicht aufstehen, mich waschen, mich anziehen. Ich melde mich krank, Fieber oder so ähnliches. Ich gehe nicht mehr ans Telefon. Das Wochenende verbringe ich im Bett. Am Montag versuche ich mit aller Kraft, wieder da zu sein. Ich kann durchhalten bis zum Zeitpunkt, als meine psychischen Kräfte nachlassen. Ich nehme Tabletten, ich will nur noch schlafen...

Als ich im Spital aufwache, fühle ich mich zuerst erleichtert und kann nicht verstehen, was passiert ist. Als dann aber das Aufstehen am Morgen zur Tortur wird, merke ich, dass ich wirklich krank bin. Krank in der Seele. Nach einer Woche sollte ich nach Hause gehen. Wo ist mein zu Hause? Meine Wohnung mit den heruntergelassenen Läden? Meine vier Wände? Erneut steigt eine Panik in mir auf. Nach einem Gespräch mit meinem Psychiater habe ich mich entschlossen, in eine psychiatrische Klinik zu gehen. Der erste Schritt ist getan.

Meine Familie, mein Freundeskreis, meine Arbeitskolleginnen, alle sind geschockt. Wie kann dies nur passieren? Man distanziert sich zunehmend. Da mir der Arbeitgeber versichert, dass ich wieder zurück kommen kann, habe ich wenigstens dieses Problem nicht auch noch zu bewältigen. Dafür bin ich sehr dankbar. Nach neun Monaten Klinikaufenthalt hat mich mein Arbeitgeber wieder in den Arbeitsprozess aufgenommen. Ich durfte zwar nicht mehr in mein altes Umfeld zurück, was für mich zuerst wie ein Zurückstossen war. In meiner neuen Abteilung hat man mich aber sehr gut aufgenommen. Ich versuche wieder mein Bestes zu geben, was mir auch gelingt. Am Abend arbeite ich wieder, bis es dunkel wird. Die Wochenende verplane ich immer weit im voraus. So geht alles gut.

Mein Umfeld erwartet von mir, dass ich nach so langer Zeit Klinik wieder gesund sein muss. Auch ich glaube daran. Ich muss aber schnell begreifen, dass Wunden immer wieder aufgerissen werden können, was sehr schmerzhaft ist. Doch die Freude am Arbeiten gibt mir viel Kraft. Auch die Kunden bestätigen mich in meiner Arbeit. Mit Hilfe von Psychotherapie-Stunden meistere ich mein Leben.

Nach zwei Jahr ein Schlag, "meine" Firma baut 800 Stellen ab. Wir werden in eine Grossfirma integriert. Jede/r zweite ist zuviel. Der Stärkere überlebt. Ich bin kein "Ellenbogentyp". Ich weiss im Vornherein, dass ich den Kampf mit Egoisten nicht aufnehmen kann. Vier Monate lang übe ich meinen Job in diesen zwei Firmen aus, zeitweise an drei Arbeitsplätzen. Ich habe Angst, ich will meine Arbeit nicht verlieren. Die Arbeit zu verlieren bedeutet für mich Existenzängste. Ich leiste erneut übermässigen Einsatz.

Nach vier Monaten – es kommt noch die dunkelste Jahreszeit hinzu - breche ich zusammen. Mein Körper schafft es nicht mehr. Nach einiger Zeit weiss ich, dass ich psychisch wieder tief unten bin.

Nach einem ausführlichen Gespräch mit meiner Therapeutin beschliesse ich für eine Krisenintervention rund sechs Wochen in eine Klinik zu gehen. Ich bin überzeugt, dass ich nach sechs Wochen wieder gesund sein werde. Ich treffe meinen Arzt, der mich bei meinem ersten Klinikaufenthalt betreute. Ich fühle mich verstanden, wir können zusammen wieder eine gute Arbeit beginnen. Nach vier Wochen teilt er mir mit, dass meine Chancen gut sind, und ich wieder zurück an die Arbeit gehen kann. Ich teile dies voller Freude meiner Personalbetreuerin mit, dass ich in zwei Wochen wieder zur Arbeit erscheinen könne und bin überglücklich. Kurz und bündig wird mir mitgeteilt, dass ich nicht mehr zurückkehren könne. Gleichzeitig teilt mir mein betreuender Arzt mit, dass er die Klinik verlassen werde.

Eine Welt bricht zusammen. Ich falle wieder in eine schwere Depression. Ein schwieriger Kampf beginnt von Neuem. Ich habe keine Freunde mehr, keine Arbeit mehr. Selbstmordgedanken plagen mich.

Durch die Umstrukturierung wird von der übernehmenden Firma ein Sozialplan ausgearbeitet. Ich komme in einen Pool "nicht arbeitsfähig". Die Bedingung für eine Kontaktnahme mit dem zuständigen Betreuer ist, dass ich 100 Prozent arbeitsfähig bin. Wie kann ich in der Klinik sein und zugleich eine Bescheinigung über 100 Prozent arbeitsfähig beibringen. Ein harter Kampf mit dem Arzt und mit mir beginnt. Die Krankenkasse will plötzlich auch nicht mehr zahlen. Ein Austritt wird diskutiert. Ich entscheide mich schliesslich, auf eigene Verantwortung die Klinik zu verlassen. Mein Arzt will mir aber die 100-prozentige Arbeitsfähigkeit nicht attestieren. Ohne Zeugnis, keine volle Arbeit.

Ich arbeite temporär in verschiedenen Abteilungen der Firma. Der Stress beginnt von vorne. Doch eine Person glaubt seit der ersten Begegnung nach der Klinik an mich: die zuständige Person des Sozialplans, ein ausgebildeter Psychologe. Er unterstützt mich, wo es möglich ist, und verschafft mir einen interessanten Job in der Firma. Ich kann an meinen Erfahrungen anknüpfen und bin überglücklich. Mein Einsatz und meine Dankbarkeit sind sehr gross. Ich glaube, jetzt kann ich wieder was Neues aufbauen.

Nach einem Jahr erneute Umstrukturierung. Mein direkter Chef muss gehen. Alles fängt von vorne an. Ich kann bleiben, aber wie lange noch... Ich nehme auch diese Herausforderung an. Ich passe mich der gegebenen Situation an. Ich will mich nicht verrückt machen lassen. Die Nächste kann ich sein. Meine Psyche ist wieder soweit geheilt.

Der nächste Schlag folgt sogleich. Mein Abteilungschef wird versetzt. Wieder verliere ich eine Bezugsperson. Nach drei Monaten ohne Chef wird ein neuer Abteilungsleiter eingestellt. Ich spüre von Anfang an, dass wir nicht die gleiche Sprache sprechen. Es vergehen keine zwei Monate, und es kommt zu einem Gespräch mit meinem neuen Chef. Er sagt mir, dass ich die jungen Leute im kreativen Umsetzen der Arbeit hindere. Ein völlig neuer Aspekt. Nie vorher war die Rede davon. Ich verstehe die Welt nicht mehr. In mir steigt zum ersten Mal eine Wut hoch. Der kommt einfach daher, hat keine Ahnung vom Metier. Ich, 48-jährig, sage zu ihm: "Wenn ich zu alt bin, dann sind sie der nächste (50-jährig)". Ich riskiere meinen Job. Aber nach all dem, was ich durchgemacht habe, weiss ich, dass ich auch an mich denken muss. Meine Seele muss gesund bleiben. Er versetzt mich.

Das Thema "arbeitslos sein" habe ich in all den Jahren immer beiseite geschoben. Ich kämpfe, bis ich körperlich krank werde. Nach einer Woche zu Hause werde ich zu einem Gespräch gerufen. Er teilt mir mit, dass ich zwei Monate Kündigungsfrist hätte. Ich könne kündigen, andernfalls werde mir gekündigt. Ich sei zu alt. Nach 30 Jahren Berufstätigkeit. Diesmal ist es mein Alter, nicht meine Psyche.

Das erste Mal muss ich mich mit dem Gedanken befassen, was machst du, wenn du in deinem Alter keinen Job mehr findest. Ich erkundige mich mein Arbeitsamt. Ich darf meine Augen nicht mehr verschliessen. Tausenden von Arbeitnehmenden geht es heute so.

Heute bin ich voll arbeitsfähig. Ich habe eine neue Stelle gefunden, bin wieder im Arbeitsprozess integriert. Niemand in der neuen Firma weiss und ahnt etwas von meinen schweren Depressionen. Ich brauche seit langem keine Medikamente mehr. Hochs und Tiefs gehören zu meinem Leben. Jetzt reagiert mein Körper. Ich habe gelernt, diese Signale zu achten. Wenn nicht, dann macht sich eine Erschöpfung bemerkbar. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss ich die Notbremse ziehen.

Zum Glück lebe ich! Eine Flamme braucht Sauerstoff, sonst brennt sie nicht. Diese Flamme war ich. Die Depression hat mir viel Wertvolles auf den weiteren Lebensweg gegeben.

Einige Monate später:
Den Text zu schreiben, war für mich - im nachhinein gesehen - wie eine Erlösung und zugleich der Schlussspurt in meiner Geschichte. Es geht mir physisch und psychisch sehr gut. Keine Medikamente, keine Therapien mehr. Genau vor 10 Jahren hat meine Geschichte begonnen. Ja, ich brauchte halt etwas länger und intensiver!!!! Jetzt kann ich das Leben in vollen Zügen zusammen mit meinem Partner geniessen. Und bei der neuen Firma konnte ich sehr gut Fuss fassen.


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