Arbeitswelt

Arbeit und Depression

Arlette N., Betroffene

Die Krankheit Depression wurde im Herbst 1998 anlässlich meines ersten Klinikaufenthaltes in der Hohenegg zum ersten Mal offiziell diagnostiziert. Heute weiss ich, dass ich seit meinem 14. Lebensjahr an ihr gelitten habe. Mein Leben lebte ich von da an auf dem Hintergrund "Wenn es nicht mehr geht, dann gehe ich ...". Dass ich als Jugendliche wie unter einer Glasglocke neben meinen Mitmenschen existierte und unter Gefühlen der inneren Verzweiflung und des Schmerzes litt, schien mir normal.

Als im Herbst 2000 die Depression mit aller Kraft zurückkam - wofür ich ihr heute dankbar bin - ermöglichte mir der sechsmonatige Aufenthalt vom Februar bis August 2001 auf der Psychotherapiestation der Klinik Hohenegg mein Leben genauer anzuschauen und meine Lebensfundamente grundsätzlich umzustrukturieren, damit sie tragfähiger wurden. Ich konnte dort neue Umgangsweisen mit mir selber kennen lernen, seelischen Ballast anschauen, Schmerzen zu- und loslassen und seelische Heilung erleben. Heute gehe ich liebevoller mit mir selber um und trage mir auch besser Sorge, denn ich weiss um meine Grenzen und versuche sie einzuhalten. Grundsätzlich gelingt es mir so zu leben, doch hin und wieder falle ich auf alte Muster wie "Du sollst nicht auf Dich, sondern auf das, was die anderen von Dir wollen, achten." oder "Funktioniere um jeden Preis, zeige ja keine Schwäche, denn wenn Du sie einmal zulässt, dann ...".

Im Herbst 2000 hatte ich mich endlich für mich entschieden - egal, was dies heissen würde, egal wie zum Beispiel mein Arbeitgeber auf die bevorstehende stationäre Behandlung reagieren würde. Trotz allem tat es mir weh, als mir klar gesagt wurde: "Also gut, wir unterstützen, dass Sie etwas tun, aber bleiben Sie lange genug weg, denn wenn es wieder passiert, dann müssen wir Ihnen künden". Das war wenigstens eine klare Haltung (ob Menschen mit einem Herzinfarkt wohl auch solche Ultimaten gestellt bekommen?) und ich nahm mir vor, erst wieder zurückzukehren, wenn ich selber davon überzeugt war, dass ich dieses Mal bessere Perspektiven hätte.

Ich verlor in der Klinikzeit ganz am Anfang meine damalige Partnerschaft und somit auch mein Zuhause, da ich in der Wohnung meines Partners wohnte. Ich hatte das Gefühl gar keinen Boden mehr finden zu können, geschweige denn je wieder am "normalen" Leben teilzunehmen. Die Umstände zwangen mich hinzuschauen, worauf mein Leben denn bisher gebaut war, denn nun musste ich mir Grund genug zum Leben sein. Dies schaffte ich in mühsamer und schmerzhafter seelischer Kleinarbeit einerseits dank der vielfältigen Unterstützung, die ich in der Klinik fand, auch wenn ich manchmal am liebsten von all dieser "seelischen" Knochenarbeit davongelaufen wäre, und andererseits dank meinem Freundeskreis, der mir hilfreich zur Seite stand.

Während all dieser Zeit informierte ich meinen Arbeitgeber in regelmässigen Abständen über meine Situation und bereitete mich dann in Absprache mit ihm auf meinen Wiedereinstieg vor. Der mir dann um ein Haar fast nicht gelungen wäre, denn ich glaubte zusammenzubrechen und die Last des Alltags und den Anforderungen der Arbeit doch nicht gewachsen zu sein.

Mein Arbeitgeber signalisierte mir jedoch ganz klar (mittlerweile hatte ein Wechsel in der Geschäftsführung stattgefunden und der neue Manager besass eine höhere Sozialkompetenz als sein Vorgänger), dass er an mich glaubte und dieses Vertrauen in meine Qualitäten gab mir die Kraft durchzuhalten und es trotz Rückfällen und Abstürzen immer wieder zu versuchen und mich in solchen Momenten nicht als Versagerin abzustempeln - was wohl am schwierigsten war. Da ich zugleich in eine neue Abteilung versetzt worden war, hatte ich glücklicherweise einen neuen direkten Vorgesetzten, der mich auf meinem Weg zurück in die volle Arbeitsfähigkeit ebenfalls förderte und unterstützte.

Kaum hatte ich mein volles Arbeitspensum von 90% Ende 2001 wieder erreicht und auch halten können, kam ein neuer Schlag: im April 2002 wurde die Abteilung, in der ich arbeitete, ins Ausland verkauft und mir wurde "aus wirtschaftlichen Gründen" gekündigt. Ich hatte grosse Angst davor, wie es an einer neuen Arbeitsstelle weitergehen würde. Denn an meiner bisherigen Stelle fühlte ich mich geschützt, da alle wussten, wie es um mich stand und ich getraute mich, wenn es an einem Tag nicht möglich war, ins Geschäft zu gehen, dies auch zu tun, weil ich die Erfahrung machte, dass ich einfach hie und da eine Bremse ziehen musste, nicht so gleichmässig wie andere funktionieren konnte. Dass mich die neue Situation nicht wieder in eine Depression fallen liess, verdankte ich meinen neuen Mustern der Konfliktbewältigung im Sinne von "Konflikte als Chance" zu sehen.

Glücklicherweise fand ich ziemlich schnell eine neue Arbeitsstelle. Leider nicht mehr in S., sondern in B., was bedeutete, dass ich neben dem neuen 100%igen Arbeitspensum auch noch zusätzlich einen längeren Arbeitsweg zu verkraften hatte. Würde ich diese Anforderungen meistern? Und: sollte ich meinen Arbeitgeber über meine Situation informieren? Wenn ja, wann und wie? Mit diesen Fragen auf dem Rücken begann dann auch prompt mein Rücken zu schmerzen, denn ich versteifte mich innerlich zu sehr.

Doch langsam gelang es mir, wieder etwas loszulassen und nach ein paar Wochen beschloss ich, meine direkte Vorgesetzte über meine persönliche Situation zu informieren. Dieses Gespräch fand ich erleichternd, denn sie wusste nun, dass ich allenfalls ab und zu einen Tag ausfallen könnte, wenn es sonst nicht anders ginge. Die anfänglich verständnisvolle Reaktion meiner Chefin kehrte sich dann aber rasch, denn in einem Standortgespräch, das wir kurz darauf hatten, wurde vor allem meine Belastbarkeit thematisiert - meine anderen Qualitäten schienen wie vom Tisch gefegt.

Obschon ich nach wie vor davon überzeugt bin, wie wichtig es für Menschen wie mich ist, über die Depression reden und auf allfällige spezielle Massnahmen hinweisen zu können, so wurde mir doch auch wieder vor Augen geführt, wie gross die Zweifel an unseren Fähigkeiten seitens der Umwelt sind, und wie schnell unsere guten Seiten unter diesem Zweifel begraben werden. Denn eigentlich brauche ich nur die Möglichkeit, zusätzliche Ruhe einschalten zu können, wenn es einfach nicht mehr geht, denn so kann ich den Rest der Zeit meine Leistung erbringen und mich vor allem vor einem weiteren Abgleiten in eine Depression bewahren. Dass ich diese Pausen auch nur im Notfall und unter grösstmöglicher Berücksichtigung des Arbeitgebers einsetze, ist für mich selbstverständlich und ich habe es auch in diesem Sinne kommuniziert.

Trotz allem muss ich einige Regeln im Umgang mit mir klar beachten:

  • 100% Arbeitsleistung sind genug!
  • Die Erholungszeiten am Abend und am Wochenende müssen gewahrt bleiben, d.h. so wenig Termine wie möglich und viel Ruhe zu Hause oder in der Natur als Ausgleich.
  • Praktisch keinen Alkoholgenuss mehr – ich merkte mit der Zeit immer mehr, wie negativ sich dies auf mein Gehirn auswirkte und ich anfälliger für depressive Verstimmungen wurde, weil meine Gedanken schwer und dunkel wurden.
  • Um Rückenproblemen infolge meiner Schreibtischtätigkeit vorzubeugen, habe ich ein kleines Körperübungsprogramm erarbeitet, das ich mit einer Entspannung beende, wo ich mich immer wieder bewusst um den Kontakt mit mir und meinem Körper bemühe.

Meine Erfahrungen haben mir jedoch gezeigt, dass Arbeitgeber besser über die Möglichkeiten, wie sie mit einem Arbeitnehmer oder einer Arbeitnehmerin mit Depressionen umgehen können, informiert werden müssen. Ich bin überzeugt, dass wir sehr gute und auch leistungsfähige MitarbeiterInnen sind - mit den richtigen Rahmenbedingungen.

Ebenso wichtig erscheint mir das vermehrte "Coming-out" von ArbeitnehmerInnen, die an Depressionen leiden oder gelitten haben. Denn leider gibt es keine 100%ige Garantie, dass wir nie mehr rückfällig werden. Um dieses Risiko so gering wie möglich zu halten, sind wir auf die Unterstützung und das Verständnis seitens der Arbeitgeber angewiesen, damit wir im Arbeitsprozess bleiben können.


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