Krankheitsbild

Psyche und Soma

Dr. med. Berthold Rothschild

Was ist das: die Psyche, die Seele? Philosophen, Psychologen, Theologen und Naturwissenschaftler haben sich in Jahrhunderten bemüht, genaueres darüber zu finden und auszusagen. Im naturwissenschaftlichen Sinne 'erfasst' hat man die Psyche bis heute noch nicht, man kennt nicht ihren Standort, ihre genauen Wirkungen und Funktionsbedingungen. Aber man weiss, dass es so etwas wie das Psychische gibt, dass neben den rein körperlichen Äusserungen des Menschen mit Sicherheit auch solche bestehen, die seine Gesundheit und seine Lebensgestalt wesentlich beeinflussen und steuern. Jenseits der rein körperlichen Funktionen des Menschen bestehen ohne Zweifel auch solche, die man gesamthaft dem Bereich 'des Seelischen' zuordnet. Die Welt der Gefühle, des Denkens, der Erinnerung usw. ist zwar an das Vorhandensein eines lebendigen Körpers gebunden, sie ist aber nicht mit diesem identisch. Weil man aber die seelischen Funktionen nicht sehen, sondern nur spüren kann, und weil sie im normalen Alltag oft unbemerkt und unbewusst wirksam sind, macht es vielen Menschen Mühe, das Seelische auch dort anzuerkennen, wo es sich gestört oder als Krankheit äussert.

Viele seelisch kranke Menschen haben grosse Schwierigkeiten, ihre Störungen als wirkliche Krankheit anzuerkennen, und ihre Umgebung erleichtert ihnen dies keineswegs. Bei Depressiven wird zwar die Traurigkeit erlebt und unausweichlich spürbar - aber 'Traurigkeit' ist eben für viele Menschen nur ein Gefühl und nicht etwas, das wirkliches Kranksein ausdrückt, so kommt es, dass der Betroffene und seine Umgebung oft glauben, es liege am guten Willen, man trage selber Schuld, müsse sich nur ablenken usw.

Dieses Unverständnis für seelische Vorgänge und ihre mannigfaltigen Störungen schafft meistens zusätzliche Leiden und neuerliche Verständnislosigkeit und erschwert auch oft die Behandlung oder Veränderung der Situation. Gar zu leicht sind die Menschen bereit, wenn etwas an ihnen gestört ist, sich für ihre seelischen Empfindungen allein verantwortlich und schuldig fühlen, anstatt sich helfen zu lassen.

Zwischen Körper und Psyche bestehen Wechselbeziehungen. Jede körperliche und materielle Veränderung kann auch zu Verschiebungen im Seelischen beitragen, jede seelische Erfahrung kann sich in körperlichen Veränderungen ausdrücken. Diese Tatsche ist die Grundlage dessen, was Veränderungen ausdrücken. Diese Tatsache ist die Grundlage dessen, was als Psychosomatik bezeichnet wird. So können z.B. Gifteinwirkungen auf den Körper zu schweren seelischen Ausnahmezustände führen (z.B. Alkoholdelirium), und jedes körperliche Kranksein wirkt sich auch auf den psychischen Grundzustand des Betroffenen aus.

Schwieriger verständlich ist für viele Menschen die umgekehrte Tatsache, dass nämlich seelische Störungen sich ganz im Körperlichen ausdrücken können. Solche Patienten zeigen oft sämtliche Symptome einer körperlichen Störung (Kreislaufkrankheiten, Magengeschwüre, Allergien usw.), und es braucht oft lange, bis Betroffene, Angehörige und Ärzte verstehen können, dass sich hier im Körper eine seelische Schwierigkeit ausdrückt, die anders als eine rein physisch bedingte zu verstehen und zu behandeln ist. Immer sollte deshalb bei körperlichen und seelischen Störungen jeweils der Zustand des anderen Funktionssystems mituntersucht und berücksichtigt werden.

Aus: "... Seele in Not... was tun?", Fachverlag AG Zürich, 1980


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