Krankheitsbild

Depression

Dr. med. Berthold Rothschild

Kaum ein Begriff aus der Welt der psychischen Störungen wird heute so unklar und so vieldeutig verwendet wie der Begriff der Depression. Man versteht darunter eine länger dauernde Verstimmung mit Zeichen der Traurigkeit, der Hilflosigkeit, der Lustlosigkeit und des Rückzugs aus den sozialen Beziehungen. Nicht jede Verstimmung mit den obigen Merkmalen ist jedoch eine Depression im Sinne einer Krankheit. Bei vielen Menschen treten solche Stimmungsschwankungen während weniger Tage auf und verschwinden wieder. In anderen Fällen sind solche Zustände Folge klarer äusseren Ursachen (z.B. Tod eines Angehörigen, Unsicherheit am Arbeitsplatz, geschäftliche Rückschläge, Verlust einer Liebesbeziehung usw.). Für viele Menschen bringt der Alltag nichts als Schwierigkeiten, sie haben tatsächlich keinen Grund, fröhlich oder unbeschwert zu sein, besonders wenn auch die nächsten Bezugspersonen Ursache oder Bestandteil solcher Schwierigkeiten sind. Die Verbitterung der im Stiche gelassen Frau, die Zukunftsangst des Arbeitslosen oder die Einsamkeit im Alter, sie alle können sich in depressiven Verstimmungen äusseren und laufen gelegentlich Gefahr, zu rasch "psychiatrisiert" und mit Medikamenten zugedeckt zu werden, wo doch solche Niedergeschlagenheit die natürliche Reaktion auf eine missliche Lebenssituation ausdrückt.

Andererseits ist nicht zu übersehen, dass ein grosser Teil der länger dauernden depressiven Verstimmungszustände nicht nur in erster Linie mit solchen Lebensbedingungen verknüpft werden können, ja dass gelegentlich sogar die Gefahr besteht, irgendwelche 'Pseudo-Ursachen' heranziehen, was am tieferen Wesen der Störung vorbeigeht. Es mag zwar durchaus sein, und es ist keineswegs selten, dass solche äusseren Bedingungen die Depression auslösen, verstärken oder unterhalten, doch liegt die eigentliche Störung in solchen Fällen tiefer und schwerer erreichbar.

Als krankhafte Depressionen sind deshalb all jene Verstimmungen zu bezeichnen, die längere Zeit (länger als Tage oder wenige Wochen) anhalten, die keine eindeutige äussere Ursache haben und die den Betroffenen eine deutliche Veränderung seines üblichen Lebensgefühl bewirken. Oft zeigen solche Depressionen deutliche Schwankungen in ihrem Schweregrad und sind z.B. am Morgen beim Aufstehen bedeutend stärker als am Abend. In vielen Fällen ist der Betroffene völlig hoffnungslos, ist von Unheilbarkeit seiner Beschwerden überzeugt und verknüpft sie mit unüberwindbaren Schuldgefühlen. Kleinere Unredlichkeiten aus früherer Zeit werden als schwere Vergehen empfunden, die eigene Erfüllung der Aufgaben im Familienkreis und am Arbeitsplatz wird als völlig ungenügend bewertet, man empfindet sich als Belastung für die ganze Umgebung, glaubt zu verarmen oder hilflos einer baldigen Katastrophe entgegenzugehen. Der Umgebung können solche Verzerrungen der Realität als Wahnidee erscheinen.

In manchen Fällen besteht eine völlig Passivität, eine Antriebsarmut und eine Preisgabe aller Verpflichtungen. In anderen Fällen ist der Betroffene unruhig, gespannt und gehetzt und wird noch zusätzlich durch seine Rastlosigkeit gequält. Die Betroffene, aber auch die Angehörigen, empfinden diese Zustände gegenüber eine völlige Ohmacht. Die üblichen Aufmunterungen, der Appell an den Willen, der Versuch von Ablenkungen und das bald mühsame 'Liebsein' bleiben wirkungslos, und der Betroffene fühlt sich immer mehr unverstanden und zieht sich zurück.

Aus: "... Seele in Not... was tun?", Fachverlag AG Zürich, 1980


> Zurück zur Liste
> Text ausdrucken
> Nach oben