Selbsthilfe

Selbsthilfe

Antoinette Contzen, Präsidentin der Selbsthilfeorganisation Equilibrium

Was bedeutet Selbsthilfe?
Als Selbsthilfe im umfassenden Sinn bezeichne ich die Fähigkeit, das Ruder für das eigene Leben in den eigenen Händen zu halten. Ich meine damit nicht die Fähigkeit, total unabhängig und auf niemanden angewiesen zu sein bzw. jeden Dienst kaufen zu können. Im Gegenteil, ich meine das Wissen, dass wir als Menschen soziale Wesen sind, und dass kein Mensch ohne andere Menschen auskommt, dass zum menschlichen Leben geben und nehmen bzw. bekommen gehört. Hilfe kann man bekommen und anbieten. Das ist relativ einfach. Selbst... da wird es komplizierter. Hier stosse ich auf das Wesentliche: selbstbewusst, selbstverantwortlich, selbstbestimmt, selbständig... Ich muss spüren können, was ich brauche, erfahren können, wo ich dies erhalten kann und mir selbst wichtig genug sein, um mich zielstrebig darum zu bemühen. Der Lebensgrundsatz heisst nicht mehr: „Es geht nicht.“ Er heisst neu: „So geht es nicht, aber wie könnte es anders gehen?“

Das Huhn oder das Ei – was muss zuerst vorhanden sein?
Damit individuelle Selbsthilfe möglich ist, muss Selbstwertgefühl vorhanden sein. Menschen, welche die Chance hatten, sich gesund zu entwickeln, können ganz unverkrampft um etwas fragen und auch verkraften, wenn sie eine Absage erhalten. Sie können abschätzen, wann es fehl am Platz ist, ein eigenes Bedürfnis anzumelden und wann man dies tun kann. Ich weiss nicht, wie viele Menschen so gesund aufwachsen. Auf jeden Fall gehöre ich zu den andern und fürchte, zur Mehrheit.

Depression und Fähigkeit zur Selbsthilfe
Depression ist eine Krankheit, die das Selbstwertgefühl beeinträchtigt. Wir Depressionsbetroffenen sind zum Beispiel Weltmeister darin, uns einzureden, dass es im Moment „sich nicht schickt“, „zu teuer wäre“, „egoistisch wäre“, „niemanden interessiert“, „wichtigeres gibt als unser Bedürfnis“.

Oder wir sprechen unsere Erwartungen nicht aus, hoffen, dass es jemand merkt, und es sich mit der Zeit selbst ergibt. Und wenn die Sterne nicht vom Himmel fallen, sind wir enttäuscht, „schmollen“, erleben die Welt als feindlich und lassen unter Umständen Wut und Frust an ahnungslosen Mitmenschen aus. Oder wir entwerten uns mit „niemand tut für mich...“, oder „niemand mag mich“.

Oder wir geben uns demonstrativ hilflos... Der Psychiater muss merken, wann ich in die Klinik muss... Der Chef soll sagen, dass ich nach Hause gehen und mich hinlegen soll. Wenn wir Glück haben, werden wir dabei frustriert, weil wir realisieren, dass uns die Umwelt die Verantwortung nicht abnimmt. Wenn wir Pech haben, übernimmt jemand Verantwortung für uns, bestimmt über uns und lässt uns noch unselbständiger werden.


Was fördert Selbsthilfe?

  • Selbsthilfegruppen. Dort ist niemand der/die Wissende. Wir alle haben Erfahrungen „erlitten“ und trauen den andern zu, dass sie auch schaffen werden, was wir selbst geschafft haben.
  • Partner, Eltern, Freunde, die es nicht nötig haben, andere klein zu machen, um selber gross zu sein. Die uns zugestehen, eigene – auch negative – Erfahrungen zu machen und unsere Beziehung nicht an Wohlverhalten-Bedingungen zu knüpfen.
  • Ärzte und Therapeuten mit der Haltung: „Du selbst bist Dein Guru“, alle andern können nur unterstützen. Wenn du selbst die Verantwortung für Deine Gesundheit übernimmst, kann dich niemand ausbeuten. Du spürst selbst, was dir gut oder schlecht tut, und du wirst nur weiterführen, was für Dich gut ist.
  • Ich selbst, wenn ich mich entscheide, ab jetzt eigenverantwortlich für mich einzustehen, mich selbst besser zu behandeln, als ich bisher von meiner Umgebung behandelt wurde (und dies mit mir machen liess). Dies setzt den schmerzhaften Prozess voraus, die Ereignisse in meinem Leben anzuschauen, um zu verstehen, warum ich so geworden bin. So kann ich mich mit meinen alten Wunden und dünnhäutigen Seiten akzeptieren und mich vor neuen Schlägen in alte Wunden besser schützen.

Wie zeigen sich Veränderungen in Richtung persönliche Selbsthilfe?
In der Regel sind es nicht riesige Sprünge, sondern kleine Fortschritte. Zum Beispiel:

  • Ich habe eine Pflanze gekauft und nehme mir Zeit, eine Ecke des Wohnzimmers schön zu gestalten, obwohl Staubsaugen sehr nötig wäre.
  • Ich wage, meinem Chef zu sagen, dass ich im Monat nur zweimal Sonntagsdienst hätte und nicht schon wieder einspringe.
  • Ich springe nicht mehr ein für den sympathischen Parteikollegen, der immer grossartige Ideen entwickelt, aber meist vergisst, dass Knochenarbeit Arbeit ist.
  • Ich erfülle den Wunsch meines Sohnes nicht, jetzt rasch seine Schuhe zu putzen, weil er ausgehen will, da auch ich eine Verabredung habe und pünktlich sein möchte.

Und die Folgen?
So kann es passieren, dass unsere Angehörigen, Mitarbeiter oder Vorgesetzten sich wundern (oder ärgern), dass wir plötzlich eigene Wünsche äussern. Wenn es heisst: „Du bist wieder komisch, wurdest du in der Therapie oder in der Selbsthilfegruppe wieder aufgehetzt?“, kann dies ein gutes Zeichen sein.

Unser Umfeld verliert einen allzeit-bereiten Dienstboten, der manchmal sehr krank war – gewinnt aber mit der Zeit ein echtes, gesundes Gegenüber. Mit der Zeit... denn es ist ein langer Prozess. Bestimmt ist jeder von uns in der Lage, in der Selbsthilfegruppe andern zu raten, lange bevor es uns selber gelingt umzusetzen, was wir „predigen“. Aber es lohnt sich, damit zu beginnen...


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