Suizidgefährdung

Angehörige und Todeswunsch

Esther Emmel, Angehörige und Mitglied der VASK Zürich

Der Begriff Angehörige auseinander dividiert, beinhaltet sehr individuelle Persönlichkeiten, die auch als solche verstanden werden wollen. Sie sind Mutter, Vater, Schwester, Bruder, Partnerin, Partner, Tochter und Sohn. Darum ist ihr Umgang mit Sterbe-, Sehnsucht-, Wunsch-Zwang und Suizid sehr unterschiedlich.
Seit 10 Jahren gehöre ich zum Betreuer-Team des Kontakttelefons für Angehörige von der VASK Zürich.
Ich bin Mutter eines seit 18 Jahren zeitweise psychisch erkrankten Sohnes. Ich habe einen sehr schweren Suizid-Versuch miterlebt. Der Inhalt dieses Artikels bezieht sich auf Gespräche am Kontakttelefon.

Wie werden Angehörige mit einem Sterbewunsch-Zwang konfrontiert?
Sehr viele Angehörige werden irgendwann mit einem Sterbewunsch oder mit einem Suizid-Versuch konfrontiert. Zuerst vielleicht mit Signalen, zum Beispiel mit Interesse an hohen Brücken, Türmen, Hochhäusern. Es fallen Bemerkungen wie: "Warum muss ich überhaupt leben? Ich will nur Ruhe. Wann ist es endlich zu Ende? Ich halte es nicht mehr aus!" Mit Suizid wird gedroht. Mit Suizid wird auch erpresst. Es kommen Selbstverletzungen vor... und das kann sich steigern bis hin zum Versuch oder Suizid.
Oft werden Angehörige ganz plötzlich und unvorbereitet von einem Suizidversuch überrascht. Der platzt dann wie eine Bombe in eine ohnehin schon schwierige Zeit hinein. Eine Zeit voller Zweifel, Schuldgefühle und Rückzug... und mit viel zu wenig Information und Wissen zur Krise oder Erkrankung ihres betroffenen Angehörigen.
Konfrontation auch in sogenannten 'guten Zeiten', da Angehörige voller Hoffnung sind und glauben, das Schlimmste wäre nun überstanden, wird ganz klar ausgesprochen: "So will und kann ich nicht mehr leben, mit diesen Einschränkungen, mit dem Wissen, dass ich mein Wunschziel nie erreichen werde. Ich will Ruhe, Frieden und ein Ende."
Sehr oft wird aber nicht mit den Angehörigen darüber gesprochen, wenn der persönliche Entscheid zum Suizid getroffen worden ist.

Wie gehen Angehörige damit um?
Generell möchten Angehörige einen Suizid verhindern. Neubetroffene geraten oft in Panik, rufen den Arzt an, wollen sofort eine Klinikeinweisung. Sie fordern Medikamente, mehr Medikamente, andere Medikamente. Man soll sofort etwas tun! Sie sind verzweifelt, haben Angst, fühlen sich einmal mehr schuldig oder suchen einen Schuldigen. Wieder andere fühlen sich wie gelähmt.
Angehörige, die damit über Jahre Erfahrung haben, reagieren weniger emotional, gelassener.
Viele Angehörige leben mit dem Wissen, dass ein Versuch oder Suizid immer und überall möglich ist, wenn der Wille dazu stark genug ist. Auch in einer geschlossenen Klinikstation oder selbst in einem Gefängnis!

Wie sollten sie damit umgehen?
Es ist ein grosser Unterschied zwischen einem Sterbezwang, dem der/die Betroffene in Angst und Panik ausgeliefert ist und nur noch mit Suizid reagieren kann oder dem Sterbewunsch, da er/sie sich – ohne psychotisch zu sein - klar dazu äussert und eventuell entscheidet. Beim Sterbezwang, denke ich, braucht der/die davon Betroffene fachliche Hilfe und zwar schnell! Hier rate ich ausnahmsweise ganz entschieden und bestimmt dazu.
Es gibt übrigens viele Betroffene, die nach einem Suizidversuch mit schweren körperlichen Verletzungen den Willen zum Leben wieder haben.

Was tun für die Sterbewilligen, was nicht?
Sehr viel kann man nicht tun, es wird auch nicht immer gewünscht. Angehörige, ich gehöre auch dazu, sollten ihn/sie vor allem ernst nehmen, zuhören und den Wunsch zu sterben nicht ausreden wollen. Voraussetzung ist aber, dass ein Angehöriger überhaupt in der Lage ist, sich ruhig und gelassen damit auseinander zu setzen. Angehörige sind meist emotional viel zu nah. Umgekehrt will er/sie vielleicht in der Familie gar nicht darüber reden, sondern sucht sich dafür eine Bezugsperson, einen Freund, vielleicht auch eine Schwester, seltener Mutter, Vater oder Partner/in. Er/sie soll spüren, dass ein gegenseitiges Vertrauen besteht. Es gibt, wenn auch selten, sehr wohl Gespräche zum Suizid mit Angehörigen. Sie sind meist ganz sachlich, beiläufig und ohne Emotion.
Zum Beispiel das Gespräch mit einer Mutter über die Todesart, die der Sohn wählen könnte. Zum Fenster hinausspringen? Nein, doch nicht, da wäre ich vermutlich querschnittgelähmt. Also ein Hochhaus, ein Turm, eine Brücke. Oder die Adern aufschneiden, schon mal probiert, es hat nicht funktioniert, erhängen? Passt mir auch nicht... und dann gehen sie wieder zum Alltag über, trinken Kaffee und im Moment ist das Thema beendet. Die Mutter meint, dass so ein Gespräch erleichternd wirkt, für den Sohn, wie für sie.
Eine andere Mutter sagte: Ich habe dir das Leben gegeben, jetzt gehört es dir, es liegt in deiner Verantwortung.
Immer stehen sich folgende Meinungen gegenüber: Den oder die Betroffenen quasi freigeben, seinen/ihren Entschluss würdigen. Und: Ich werde es nie zulassen. Ich werde alles tun, um es zu verhindern. Ich will dich nicht verlieren.

Was nicht tun?
Die Nerven verlieren, ausreden, zerreden, schimpfen, schreien, das Vertrauen verletzen, ja sagen und nein denken usw. Das bringt nichts und schadet allen.

Was kann ich für mich tun?
Mich aussprechen mit anderen Angehörigen, zum Beispiel in einer Angehörigen-Gruppe. Für mich selbst eine/n Therapeut/in oder Psycholog/in suchen. Mich aussprechen beim VASK-Telefon oder bei Telefon 143, Dargebotene Hand. Schuldgefühle abbauen, so gut es eben geht. Mir jemand suchen, wo ich mich ausweinen kann. Möglichst im normalen Tagesrhythmus weiterleben. Eine Mutter will ihrem Sohn alles zuliebe tun, damit sie später keine Schuldgefühle hat. Ihr tut das jetzt vielleicht gut ... aber dem Sohn? Will er das? Auf alle Fälle nützt es nichts. Schuldgefühle haben es so in sich, sie sind wie Chamäleone.

Ziel der Beratung
Ich nenne mich nicht Beraterin und ich gebe auch keine Ratschläge. Vor allem bin ich Zuhörerin, lasse die Anrufenden sich aussprechen, nehme sie sehr ernst. Ich zeige Verständnis, gebe Zuwendung... und gar nie werde ich sie über Schmerz, Angst und Trauer hinwegtrösten. In Gesprächen am Telefon über Todeswunsch und Suizid geht es mir darum, dass sich die Anrufenden klar werden, was sie annehmen können und was nicht, zu was sie nein oder ja sagen, dass sie herausfinden, wie es für sie richtig ist... und dann auch dazu stehen. Übrigens, man kann sehr wohl auch zu seinen ambivalenten Gefühlen und Rückfällen stehen.

Angehörige zu Sterbehilfe-Organisationen
Mit fast hundertprozentiger Sicherheit glaube ich, dass Angehörige Angebote von Sterbehilfe-Organisationen entschieden ablehnen. Obwohl Suizid und Versuche immer ein Thema sind, haben meine Team-Kolleginnen und ich noch nie von Angehörigen gehört, dass Sterbewillige eine Sterbehilfe-Organisation gewünscht oder zugezogen hätten. Laut Angehörigen ist beim Suizid die 'Ausführung' wie, wo und wann eine einsame, oft spontane Entscheidung selbst ausgeführt.

Und noch eine Geschichte ...
... die Parallelen zum Thema hat. Es ist die Geschichte vom Tod und der Auferstehung des Lazarus, der schon vier Tage tot im Grabe lag. Die Angehörigen klagten, weinten und wünschten sich ihren Bruder und Sohn wieder lebend. Und so geschah es. Er wurde auferweckt, trat aus der Gruft ans Tageslicht. Die Angehörigen jubelten, freuten sich und machten ein Fest. Ja, ... aber niemand hatte Lazarus gefragt, ob er das überhaupt wolle.

Diese Sicht wurde ohne zu werten in den Raum gestellt, 1999 beim Aids-Gottesdienst zum Gedenken der an Aids Gestorbenen und zwar in Bezug auf die neuen, sehr problematischen Aids-Medikamente.


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