Suizidgefährdung

Suizidprävention

Erkennen und Handeln bei akuter Suizidaliät

Prof. Dr. med. Manfred Wolfersdorf

Suizidales Denken und Verhalten gibt es seit Beginn der Menschheitsgeschichte. Der Suizid ist ebenso beschrieben bei Naturvölkern wie in hochindustrialisierten Ländern. Suizide und suizidales Verhalten sind und waren Thema in allen Religionen und Philosophien. Beurteilung und Bewertung von Suizidalität reichen von suizidalem Verhalten als Ausdruck grösster Freiheit bis zu Suizidalität als Ausdruck von Einengung durch psychische Erkrankung oder soziale Unfreiheit. In der Medizin wurde Suizidalität meist in der Nähe von Depression und Melancholie gesehen. Heute ist man sich im Bereich von Versorgung und Prävention von Suizidalität der multifaktoriellen Bedingtheit von Suizidalität mit ihren psychischen, biologischen, soziologisch-psychosozialen und spirituell-religiösen Anteilen und der daraus ableitbaren Notwendigkeit kombinierter therapeutischer Ansätze bewusst.

Das Erkennen und das Behandeln, das Umgehen mit Menschen in akuten suizidalen Krisen basiert auf diesem heutigen Entwicklungsstand, wobei in den letzten Jahrzehnten deutliche Fortschritte hinsichtlich der Sekundär- und Tertiärprävention bei suizidalen Menschen gemacht wurden. Neben den Hausärzten, den niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten, den psychiatrischen Ambulanzen und Kliniken steht für suizidale Patienten heute eine große Zahl von Beratungsstellen, Kriseninterventionsstellen zur Verfügung. Es gibt Einrichtungen, die sich speziell der Suizidprävention und der Hilfe in suizidalen Krisen gewidmet haben, ganz abgesehen von den traditionellen Gesprächsmöglichkeiten wie Telefonseelsorge und Notrufeinrichtungen.

Dabei dürfte es kaum einen 'Hausarzt' mit mehrjähriger Praxistätigkeit, kaum einen Chirurgen, Internisten oder Anästhesisten geben, der sich nicht schon mit suizidalen Menschen konfrontiert sah und entsprechende Entscheidungen treffen musste. Hierbei können nachfolgend dargestellte Modelle von Suizidalität hilfreich sein.


Begriffsbestimmung Suizidaliät

Definitionen von Suizidalität müssen die Grenzbereiche zu Freizeit-Risikoverhalten einerseits und nichtsuizidalem autoaggressivem Verhalten andererseits berücksichtigen. Ob ein sogenanntes Freizeit-Risikoverhalten bereits suizidal ist, ob eine autoaggressive Handlungsweise wie z. B. das systematische Aufschneiden der Haut suizidalen Charakter aufweist, bestimmt jeweils der Handelnde. Seine Aussage über seine Intention ist entscheidend, nicht die Auffassung des Beobachters, der dazu neigt, über sogenannte Ernsthaftigkeit oder Nichternsthaftigkeit einer suizidalen Handlung aus der Sicht des Ergebnisses dieser Handlung zu urteilen.

Wenn nach Ansicht des Handelnden das eigene Versterben angestrebt oder in Kauf genommen wurde, die angewandte Methode, so banal sie auch immer sein mag, als wirksam betrachtet wurde, handelt es sich um eine suizidale Handlung.

So ist auch die Einnahme von drei Baldrian-Dragees durch einen minderbegabten Patienten, der glaubt, sich damit suizidieren zu können, als Suizidversuch zu werten.

Suizidaliät entzieht sich unter Umständen dem spontanen Einfühlungsvermögen eines gesunden Menschen, so dass zur Annäherung an dieses psychische Krankheitsbild Definitionen und Modellvorstellungen, die sich diesem Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln nähern, nützlich sind:

  • Suizidalität meint die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln oder passives Unterlassen oder durch Handelnlassen den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen.
  • Suizidalität ist grundsätzlich allen Menschen möglich, tritt jedoch häufig in psychosozialen Krisen und bei psychischer Erkrankung auf (medizinischpsychosoziales Paradigma).
  • Psychodynamisch ist Suizidalität ein komplexes Geschehen aus Bewertung der eigenen Person, der Wertigkeit in und von Beziehungen, aus Einschätzung von eigener und der Zukunft anderer, Einschätzung der Veränderbarkeit von Zuständen; ein weiterer Faktor ist unter Umständen ein verändertes Erleben, beeinflusst durch die psychische und/oder körperliche Befindlichkeit.
  • Suizidalität ist dabei bewusstes Denken und Handeln und zielt auf ein äusseres oder inneres Objekt, eine Person, ein Lebenskonzept. Suizidales Verhalten will etwas verändern, den anderen, die Umwelt oder sich selbst in der Beziehung zur Umwelt.
  • Suizidalität ist meist kein Ausdruck von Freiheit und Wahlmöglichkeit, sondern von Einengung durch objektive oder subjektiv erlebte Not, durch psychische oder körperliche Befindlichkeit bzw. deren Folgen.

Suizidalität weist unterschiedliche Grade von Handlungsdruck auf. Mit zunehmendem Handlungsdruck, spätestens ab spontan sich aufdrängenden und mit Kontrollverlustangst einhergehenden Suizidideen, auf jeden Fall bei konkreten Suizidabsichten, nimmt das Ausmass an Fremdverantwortung und die Notwendigkeit aktiven Handelns von therapeutisch-ärztlicher Seite eindeutig zu.

Eine strukturelle Analyse suizidalen Verhaltens zeigt, dass verschiedene Faktoren in Kombination zum Auftreten suizidalen Verhaltens beitragen. Die Suizididee ist für sich noch nicht krankhaft; man trifft sie bei etwa einem Viertel der Allgemeinbevölkerung auch ausserhalb psychosozialer Krisen und psychischer Erkrankungen an.

Folgende strukturelle Komponenten können in verschiedenen Kombinationen suizidales Verhalten auslösen:

  • Suizidideen: Ruhe- und Todeswünsche, konkrete Suizidideen; fluktuierend, zwanghaft, impulshaft.
  • Psychoreaktive Faktoren als aktuelle Auslöser, z. B. narzistische Kränkung, Verlust.
  • Spezifisches Erleben (Affektivität, Kognitionen), z. B. Verzweiflung, Wut, tiefe Depressivität, Hoffnungslosigkeit, fehlende Zukunftsperspektive; Psychopathologie
  • Verlust protektiver Faktoren, z. B. von Bindungen (Partner, Familie, Gruppe; Gruppenkohäsion), von sozialen Normen (z. B. Aggressionskontrolle), Einfluss von Gesetzen (z.B. Waffenverbot).
  • Biologische Faktoren: z. B. 'Impulsivität', serotonerge Störung; Antriebsstörung, iatrogene Beeinflussung des Antriebs.


Was tun bei Verdacht auf Suizidalität?

Wahrnehmen, daran denken

  • Hinweise: Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Schuldgefühle, fehlende Zukunftsperspektive, situative Einengung
  • Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe (insbesondere Depressionen, Suchtkrankheiten, alte Menschen, offensichtliche Suizidalität)
  • Äußerungen von Suizidalität
  • subjektiv (krankhaft, z.B. depressiv) verändertes Erleben von Beziehung, Situation, Umfeld
  • psychosoziale Krisen


Akutes Handeln

  • Beziehungsangebot, Entlastung, Diagnostik
  • offen, direkt nachfragen, Gesprächsangebot; Suizidalität als Notsignal ernst nehmen; klären, was Ios ist, weiteres Vorgehen überlegen


Nächste Schritte

  • Krisenintervention, Begleitung, Therapie
  • Fragen: Reicht freundschaftliche Begleitung durch die Krise?
  • Wenn ja, will ich das, kann ich das (Bereitschaft, Kompetenz)? Wer sonst?
  • Fachkompetenz zuziehen (Psychiater, Beratungsstelle u.ä.).
  • Psychische Krankheit? Wenn ja, Psychiater zuziehen! Notfalls Einweisung.

Aus: Suizidprävention – Erkennen und Handeln bei akuter Suizidalität.
In: Fortschritte der Medizin 115 (Jg.) (1997), Nr. 11, S. 38-40.


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