Ursachen und Sinn

Zirkuläres Depressionsmodell

PD Dr. med. Heinz Böker

Die Erfolge der biologischen Psychiatrie in den vergangenen Jahrzehnten und die therapeutische und prophylaktische Wirksamkeit der antidepressiv wirkenden Psychopharmaka liessen eine Zeitlang die Bedeutung psychodynamischer und soziodynamischer Faktoren der Depression in den Hintergrund treten.

Bemerkenswerterweise wird in den vergangenen Jahren gerade auch von Vertretern der biologischen Psychiatrie vielfach die Notwendigkeit einer auch psychotherapeutischen Begleitung depressiver Patienten betont. In der Entwicklung multimodaler Therapieprogramme findet die Erkenntnis ihren Niederschlag, dass hochkomplexe Systeme (wie der Wahn oder auch das depressive Erleben) nicht direkt und ausschliesslich durch die Verschiebungen der Neurotransmitter hervorgerufen werden können. Mit grösster Wahrscheinlichkeit lässt sich annehmen, dass durch einen möglichen biologischen Faktor (z.B. eine biologisch-erbliche Labilität der Antriebs-Stimmungs-Systeme) unter Umständen die Herstellung einer stabilen emotionalen Balance in der Begegnung des Selbst mit den emotional bedeutsamen anderen erschwert wird.

Allgemein ist heute davon auszugehen, dass die meisten schweren Depressionen Folge des Zusammenspiels unterschiedlicher biologischer, psychischer und sozialer Faktoren sind. So verweisen die chronobiologischen Befunde (abgewandelter zirkadianer Rhythmus, die Ergebnisse der neuroendokrinologischen Untersuchungen (Bedeutung der hypothalamischhypophysären Regulation), die Auslösung der affektiven Psychosen durch körperliche Krankheiten, in Schwangerschaft, Wochenbett und Klimakterium, ferner in Entwurzelungs- und Entlastungssituationen und die strukturtypischen Eigenschaften der sogenannten prämorbiden Persönlichkeit (Typus melancholicus, Typus manicus) auf die mögliche Zirkularität unterschiedlicher Wirkfaktoren. Um die Störung des Gleichgewichtes dieser Faktoren zu konzeptualisieren, wurden in den letzten Jahren Depressionsmodelle entwickelt mit eher biologischpsychiatrischer Akzentsetzung oder Betonung psychodynamisch-soziodynamischer Zusammenhänge.

Das Modell der zuletzt genannten Autoren geht davon aus, dass sich durch das Zusammenwirken biologischer Faktoren, bestimmter Erfahrungen und Beziehungsmuster eine Persönlichkeitsstruktur entwickelt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Betreffende stets versucht, sich auf die Erwartungen seines Umfeldes einzustimmen ('reaktive Identität'). Viele zur Depression disponierte Menschen sind ausserordentlich gewissenhaft; sie fürchten die Wertschätzung und Zuwendung ihres Umfeldes zu verlieren, sobald sie den Erwartungen des anderen und schliesslich auch den eigenen hohen Idealvorstellungen nicht gerecht werden. Diese Situation kommt einem Verlusterlebnis im weitesten Sinne gleich und ist schliesslich oftmals als letzter, aktueller Auslöser einer Depression anzusehen. Im weiteren Verlauf mobilisiert der depressive Mensch seine früher bereits vorhandenen Bewältigungsmuster; er klammert sich verstärkt an seinen Partner oder auch an seine beruflichen Aufgaben. Der Spielraum in den Beziehungen - insbesondere zur 'dominanten Bezugsperson' - wird unter Umständen zunehmend kleiner. Es tritt schliesslich ein Circulus vitiosus ein, bei dem sich die Depression als affektive Grundstimmung ausbreitet.

Der depressive Affekt ist als gemeinsamer, elementarer psychischer Prozess anzusehen, der den Kern der vielfältig gestalteten depressiven Syndrome ausmacht. Der depressive Affekt hat wie jeder andere Affekt auch - kommunikative, informative und motivierende Funktionen. Er signalisiert - im Gegensatz zur Trauer - den eingetretenen oder drohenden intrapsychischen Stillstand, das Verschwinden von Zukunftsperspektiven, Hoffnungslosigkeit, Verlangsamung bzw. Stillstand des Zeiterlebens oder das Eingeschlossensein in Grenzen, die man nicht überschreiten kann (Inkludenz) und das Zurückbleiben hinter eigenen Ansprüchen (Remanenz).

Die Ursachen dieser Blockierung seelischer Prozesse sind nicht einheitlich. Die Blockade kann entstehen durch:

  • einen schweren realen Verlust oder Kränkung
  • 'unlösbar' erscheinende Konflikte
  • psychophysische Erschöpfung (infolge eines Anhaltens der Konfliktsituation oder auch durch biologisch bedingte Vitalitätsminderung im Alter)
  • reale Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit (vergleichbar der anaklitischen Depression des Kindesalters)

Der depressive Affekt allein ist nicht identisch mit dem Krankheitsbild der Depression. Unter günstigen Bedingungen kann es zu einer positiven Änderung und produktiven Entwicklung kommen. Erst bei längerem Anhalten der auslösenden Situation und insbesondere durch Hinzutreten komplizierender Mechanismen sich selbst verstärkender und schliesslich gleichförmig verlaufender Prozesse entstehen die klinischen Formen der Depression.


Bio-psycho-soziale Circuli vitiosi der Depression

Die beteiligten bio-psycho-sozialen Circuli vitiosi, in die der depressive Mensch unter Umständen hineingerät, sollen aus Übersichtsgründen einzeln geschildert werden:

Rückzug
Der erste Teufelskreis beginnt mit einem zunächst sehr sinnvollen Rückzug von der äusseren Welt, der sich als ein defensiver Versuch verstehen lässt, das Selbst - beispielsweise wie bei der sogenannten Trauerarbeit - zu schützen. Mit der resultierenden Verminderung der sozialen Anerkennung kommt es schliesslich aber zu einer weiteren Einbusse des Selbstwertgefühls, das im Verlauf immer mehr abnimmt: Der Teufelskreis beginnt sich immer schneller zu drehen.

Anklammerung
Der naheliegende Versuch, die verlorene Sicherheit kompensatorisch mit Hilfe des anderen (des Partners, der Eltern) wiederzugewinnen, ist mit dem hohen Preis verbunden, die eigene Autonomie aufgeben zu müssen. In psychoanalytischer Sicht trägt eine Trennung bzw. ein Objektverlust bei Menschen mit einer labilen Regulation des Selbstwertgefühls zu einer Intensivierung des Bedürfnisses bei, das verlorene, ambivalente Objekt in sich aufzunehmen, es global zu introjizieren. Der «Hunger nach dem Objekt» wird nur vorübergehend gestillt; es resultiert eine Zunahme der konflikthaften Spannung im Selbst, das nur unzureichend vom Objekt getrennt ist. Oft lässt sich beobachten, dass die intensiven Anklammerungstendenzen Depressiver ebenfalls zu einer Zunahme konflikthafter Spannungen in der Partnerschaft beitragen. Auch bei diesem vergeblichen Bewältigungsversuch resultiert schliesslich aus inneren Gründen (Introjektion des ambivalenten Objektes) und äusseren Gründen (Zunahme der Partnerschaftskonflikte) eine weitere Abnahme des Selbstwertgefühls.

Schuldgefühle
Der nächste Teufelskreis wird durch die quälenden Schuldgefühle depressiver Menschen angestossen. Mit der Unterwerfung unter ein strenges, rigides Gewissen ist oftmals eine massive Hemmung nach aussen gerichteter, aggressiver Strebungen verbunden. Diese aggressiven Tendenzen werden dabei gegen das eigene Selbst gewendet, um den anderen zu schützen und Auseinandersetzungen zu vermeiden. Es tritt jedoch nur vorübergehend eine Entlastung ein, indem sich das Selbst dem Objekt (bzw. dessen intrapsychischem Stellvertreter, dem Über-Ich) unterwirft. Angesichts der zunehmenden inneren Spannungen resultieren immer massivere Selbstvorwürfe, es kommt unter Umständen zu autoaggressiven Handlungen und - im Zuge einer weiteren psychotischen Regression - zu einem Schuld- und Versündigungswahn.

Psychosomatischer Teufelskreis
Es ist davon auszugehen, dass diese seelischen Prozesse - zumindest teilweise - auch körperliche Korrelate besitzen bzw. somatopsychische-psychosomatische Zusammenhänge implizieren. Dadurch können unter Umständen neuronale Systeme angestossen werden, die von einem bestimmten Punkt an eigengesetzlich schwingen und über Rückkopplungsmechanismen auf seelische Prozesse zurückwirken. Hierbei spielen zum Beispiel chronobiologische Gesetzmässigkeiten, Stoffwechseleinflüsse und konstitutionelle Faktoren eine grosse Rolle. Diese interagierenden, sich immer mehr verselbständigenden körperlichen Vorgänge (z. B. Veränderungen im Bereich der Erregungsausbreitung) tragen schliesslich zu einer weiteren Verstärkung der für die Depression grundlegenden seelischen Prozesse bei; es resultiert schliesslich eine generalisierte Veränderung der Grundstimmung und des Antriebs.

Durch subjektive Ausdrucksgebung verstärkte Depression
Ein weiterer Teufelskreis besteht schliesslich darin, dass die depressive 'Lähmung' und Leere mit dem sie begleitenden körperlichen Ausdruck (der erstarrten Mimik, Gestik und Körperhaltung) vom depressiven Menschen subjektiv als adäquate, zu seinem seelischen Zustand passende Ausdrucksgebung empfunden wird. Auch auf diesem Wege kann - infolge der verzerrten Körperselbstwahrnehmung - eine Fixierung des depressiven Zustands resultieren.

Kognitive Circuli vitiosi der Depression
Dysfunktionale Kognitionen des Depressiven (z. B. selektive Abstraktionen, Übergeneralisierungen, Personalisierungen, ein moralisch-absolutistisches Denken und ungenaues Benennen) erweisen sich als stabile, überdauernde Muster der selektiven Wahrnehmung, Kodierung und Bewertung von Reizen. Mit dem Entstehen depressiver, verzerrter Kognitionen setzt ein weiterer zirkulärer Prozess ein, durch den es zur Verfestigung einer Depression und der damit verknüpften Kognitionen kommt.

Mehrdimensionales Behandlungsmodell
Die Behandlung der Depression besteht nun im wesentlichen darin, die geschilderten bio-psychosozialen Circuli vitiosi aufzulösen. Von entscheidender therapeutischer Bedeutung ist es, den Fokus von dem scheinbar nur defizitären Charakter psychopathologischer Phänomene zu verlagern und die vorhandenen produktiven und kompensatorisch wirksamen Faktoren zu erfassen. Unterschiedliche therapeutische Strategien können somit zur Anwendung kommen, sofern sie geeignet sind, zur Unterbrechung bzw. Schwächung der depressionsfördernden Circuli vitiosi beizutragen.

Eine grosse Rolle in der Depressionsbehandlung spielt die kognitive Verhaltenstherapie einerseits und die auf der Weiterentwicklung psychodynamischer Depressionskonzepte beruhende interpersonaleTherapie andererseits. Es ist zu vermuten, dass die therapeutischen Erfolge nicht nur auf spezifischen methodenimmanenten Faktoren beruhen, sondern auf dem Erlebnis einer therapeutischen Beziehung, in der sich die depressionsfördernden Muster nicht wiederholen und neue Beziehungserfahrungen ermöglicht werden. Dieses ist unter anderem auch davon abhängig, ob es dem Therapeuten gelingt, seine oftmals belastende Gegenübertragung in der Begegnung mit dem 'versteinerten' depressiven Patienten oder auch mit dem grandios agierenden manischen Patienten kreativ zu nutzen.

Das wesentliche Ziel der Behandlung besteht somit darin, im handelnden Dialog mit dem Patienten eine tragfähige Beziehung aufzubauen, die es ermöglicht, die defensiven Blockaden schrittweise zu überwinden und Zugang zu den blockierten Ressourcen zu gewinnen, die die bisherigen Bewältigungsmechanismen (z. B. Rückzug und Anklammerung) überflüssig machen. Die Einsicht in die Psychodynamik der schweren Depression ist dabei nicht nur Grundlage der psychodynamisch orientierten ambulanten Psychotherapie Depressiver, sondern eröffnet auch für die stationäre Behandlung während der manifesten schweren depressiven Verstimmung einen wesentlichen Zugang zu dem Patienten.

Aus: Psychotherapeutische und soziotherapeutische Aspekte bei schweren Depressionen.
In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. 149. 1/1998. Sonderdruck. Schwabe & Co. Verlag. Basel.


> Zurück zur Liste
> Text ausdrucken
> Nach oben