Ursachen und Sinn

Was macht depressiv in unserer Gesellschaft ?

Prof. Dr. med. Daniel Hell

Neben psychologischen und biologischen Ursachen gibt es auch gesellschaftliche Gründe für die zunehmende Zahl behandelter depressiver Menschen: Leistungsorientierung, soziale Deregulierung und die geforderte Norm des immer gut Draufseins sind als mögliche Ursachen zu diskutieren.

Die depressive Blockade trifft einen Kernpunkt der modernen Gesellschaftorganisation: die Forderung nach Flexibilität und globaler Vernetzung. Um die soziale Dynamik der Depression zu diskutieren, ist es hilfreich, das depressive Geschehen mit einem reibungsvollen Bremsmanöver zu vergleichen. Wer depressiv wird, erfährt sich gegen seinen Willen ausgebremst. Er fühlt sich wie angehalten, zum Stillstehen gezwungen und in seinem Denken, Erinnern, Fühlen und Tun blockiert. Konsequenterweise stellen depressive Menschen erschrocken fest, dass ihnen etwas Grundsätzliches fehlt. Auch greifen sie oft zu Bildern, um ihr verändertes Erleben im Gegensatz zum sonstigen Leben darzustellen. Depression wird beschrieben als eine Art "aufgezwungenes Wüstenerlebnis" (mitten unter Menschen), eine Form von "dunkler Nacht" (in hellem Tageslicht), als "eingefroren" sein (umgeben von Wärme) oder als Ausdruck "seelischer Lähmung" (ohne körperliche Lähmungserscheinungen).

Diese Bilder umfassen Raum und Zeit. Sie zeugen davon, dass in einer schweren Depression nichts mehr ist, wie es vorher war. Doch geschieht die depressive Erfahrung weder im persönlichen noch sozialen Vakuum. Sie spielt sich auch nicht als isoliertes Ereignis neuronaler Vorgänge im Gehirn ab. Vielmehr zeugt die depressive Erfahrung davon, wie sehr sich ein Mensch in Diskrepanz zu seiner Umwelt und zu seinen sozialisierten Selbstvorstellungen wahrnimmt. Denn es gäbe kein so schmerzhaftes depressives Leiden, wenn die Erfahrung der Herabgestimmtheit und Ermüdung nicht im krassen Kontrast zu den eigenen und fremden Erwartungen stünde.

Soziale Einflüsse auf die Depressionsentwicklung
Es gilt heute als gesichert, dass insbesondere den ersten depressiven Episoden eine psychosoziale Belastungssituation vorausgeht. Dazu zählen berufliche Schwierigkeiten, anhaltende Eheschwierigkeiten und vor allem Verluste von Partnern, Eltern oder Kindern. Das Gemeinsame dieser Auslösefaktoren scheint zu sein, dass sie einen Menschen an seiner verletzlichen Stelle treffen, sodass auslösendes Ereignis und persönliche Grundhaltung wie Schlüssel und Schloss zusammenpassen. So kann eine soziale Zurücksetzung einen ehrgeizigen Menschen furchtbar schmerzen, während eine anders ausgerichtete Person durch das gleiche Ereignis weniger gestresst wird.

Um den Einfluss sozialer Faktoren gegenüber genetischen und Persönlichkeitsfaktoren zu gewichten, hat die moderne Depressionsforschung zwei Wege beschritten. Zum einen wurden eingreifende soziale Ereignisse (wie Firmenschliessungen oder Naturkatastrophen) zum Ausgangspunkt von Verlaufsuntersuchungen gemacht. Bei diesem Untersuchungsansatzes kann davon ausgegangen werden, dass die belastenden Lebensereignisse von den betroffenen Personen nicht herbeigeführt wurden und unabhängig von ihrem Verhalten und Charakter aufgetreten sind. Damit wurde eindeutig belegt, dass schwerwiegende soziale Belastungen zu einem Anstieg von Depressionen in einer betroffenen Bevölkerungsgruppe führen. So hat die Schliessung eines Unternehmens in einer abgelegenen Gegend Norwegens in der betroffenen Gemeinde zu einem deutlichen Anstieg der Depressionsfälle geführt, während die Anzahl der Depressionsfälle in der Nachbargemeinde, die keine Betriebsschliessung zu beklagen hatte, niedrig blieb. In anderen Studien erwies sich neben Arbeitslosigkeit ein tiefes Einkommen als wichtiger Prädikator für Depressionen.

Die zweite Methode, um soziale von genetischen Einflussfaktoren zu trennen, zielt auf die Untersuchung eineiiger Zwillinge ab, die das gleiche Erbgut haben. So hat die Arbeitsgruppe um Kenneth Kendler bei über 2000 Zwillingen das Auftreten von Depressionen untersucht. Dabei ergab sich, dass nicht unbedingt beide Zwillinge erkranken, sondern dass eine Depression hauptsächlich bei jenen Personen auftritt, die zuvor ein belastendes Lebensereignis (wie Partner- oder Stellenverlust) erfahren haben. Ohne belastendes Lebensereignis (im vorausgehenden Monat) beschränkte sich die Zahl aufgetretener Depressionen in der untersuchten Gruppe auf knapp ein Prozent. Trat eine stressvolle Belastung auf, stieg die Depressionshäufigkeit auf über drei Prozent an, wurden gar drei belastende Ereignisse gezählt, erhöhte sich die Depressionshäufigkeit auf 24 Prozent.

Zunahme der Depressionsbehandlungen
Wiewohl es methodisch schwierig zu beweisen ist, so weist doch vieles darauf hin, dass Depressionen zugenommen haben. Sicher ist, dass die Zahl der Behandlungen von Depressionen in den letzten Jahren sehr stark angestiegen ist. So haben sich zum Beispiel die Depressionsbehandlungen im letzten Jahrzehnt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich verdreifacht. Ganz generell kann national und international eine Zunahme der ambulanten und stationären Depressionsbehandlungen beobachtet werden. Dieser Anstieg dürfte mehrere gesellschaftliche Gründe haben. Zum einen wurde die Depressionstherapie vermehrt gesellschaftsfähig. Dazu hat auch die Pharmaindustrie beigetragen. Ihrem Marketing ist es gelungen, die medikamentöse Behandlung depressiver Zustände mit einem Depressionsmodell zu verbinden, das sich von akzeptierten körperlichen Erkrankungen (z.B. der Zuckerkrankheit) nicht unterscheidet. Ein solches hypothetisches Modell senkt zweifellos die Schwelle, sich behandeln zu lassen.

Zum Anstieg der Depressionsbehandlungen dürfte aber auch beigetragen haben, dass es immer schwieriger geworden ist, in einem nur leicht depressiven Zustand im modernen Alltag und Berufsleben zu bestehen. Denn die gesellschaftliche Situation hat sich in den letzten Jahrzehnten in den westlichen Industrienationen drastisch verändert. Statt Tugenden wie Treue und Pflichtbewusstsein, die von einer langfristigen Lebensplanung zeugen, sind in der globalisierten und deregulierten Gesellschaft der Spätmoderne Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Kurzentschlossenheit gefordert. Je schneller und flexibler aber gehandelt werden muss, desto eher zieht das Auftreten einer depressiven Verlangsamung auch berufliche Einschränkungen nach sich.

Tritt in einer gesellschaftlichen Situation, die auf selbstverantwortliches Handeln setzt und soziale Sicherheiten abbaut, eine depressive Blockade auf, wird das moderne Individuum an seiner sensibelsten Stelle getroffen. Denn ein depressiver Mensch kann nicht erfüllen, was vom spätmodernen Menschen zunehmend erwartet wird. Auf sich selber gestellt zu sein, setzt voraus, initiativ denken und handeln zu können. Gerade diese Fähigkeiten werden aber in der Depression herabgesetzt. In der Depression ereignet sich, was der moderne Mensch am wenigsten erträgt: Er erlebt klar und wach mit, wie seine persönlichen Entscheidungs- und Einflussmöglichkeiten eingeschränkt werden. Seine Gedanken und Erinnerungen werden schwerer abrufbar. Planen und Entscheiden sind ebenso blockiert wie ausführende Bewegungen oder körpersprachliche Ausdrucksformen. Doch bleibt sich der depressive Mensch – anders als in Bewusstlosigkeit oder bei einer dementiellen Erkrankung – seiner Situation bewusst. In dieser Situation fühlt sich das moderne Ich vor das Nichts gestellt. Es ist auf sich selbst geworfen, ohne in den vorherrschenden kulturellen Wertungen - in Globalisierung und Deregulierung - einen tragenden Grund zu finden.

Herausforderung an die Psychiatrie
Diese neue Situation stellt an die Psychiatrie neue, bisher kaum wahrgenommene Herausforderungen. Es genügt nicht, die vorherrschenden sozioökonomischen Kräfte zu unterstützen und aus dem leidenden Menschen hauptsächlich ein mechanistisch zu korrigierendes Objekt zu machen. Es gilt auch ein Gegengewicht gegen die zentrifugalen Kräfte der modernen Lebenssituation zu schaffen und der innenorientierten, persönlichen Erfahrung der betroffenen Menschen Aufmerksamkeit zu schenken. Selbsterfahrung und Gemeinschaftsbildung gehören zusammen. Nur wo das eine gestärkt wird, nimmt auch das andere zu. Deshalb gilt es meines Erachtens Wege zu finden, um mit psychiatrisch-psychotherapeutischer Hilfe dem äusseren Druck einen befreienden inneren Raum entgegen zu setzen.

Auszug aus dem Heft "Depression: Den eigenen Weg gehen" von Pro Mente Sana. Das Heft kostet Fr. 9.-
und kann bestellt werden bei Pro Mente Sana, Hardturmstrasse 261, Postfach, CH-8031 Zürich
Tel. 01 361 82 72, Fax 01 361 82 16, E-Mail: kontakt@promentesana.ch, www.promentesana.ch


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