Ursachen und Sinn

Kann Depression auch Sinn machen?

Prof. Dr. med. Daniel Hell

Ein älterer Arzt, der bei mir in Behandlung stand, sagte zu mir: "Ich habe in meinem Leben viel durchgemacht. Ich habe aber noch nie so gelitten, wie in meiner Depression." In der Tat: der betreffende Mann hatte ein körperliches Leiden, das sein Gesicht zunehmend entstellte und ihn schliesslich erblinden liess. Trotzdem litt er, nach seinen eigenen Worten, mehr an seinen depressiven Symptomen als an seiner körperlichen Erkrankung. Von seiner Depression genesen, aber völlig erblindet und auf die Unterstützung seiner Frau angewiesen, fügte er hinzu: "Ich kann mir nichts schlimmeres vorstellen, als nochmals durch die Hölle der Depression zu gehen."

Von vielen anderen Menschen habe ich ähnliches gehört. Die depressive Zeit wurde von vielen als die schlimmste in ihrem Leben bezeichnet. Wie kann man sich angesichts solcher Berichte fragen, welchen Sinn eine Depression mache.

Die Bedeutung der Bewertung depressiven Erlebens
Es gibt mehrere Gründe. Zum einen fragen depressive Menschen oft selber nach dem Sinn ihrer Erkrankung. Sie tun dies vor allem, wenn es ihnen wieder besser geht. In tiefster Depression sind sie gleichsam von Sinnlosigkeit umstellt. Solange sie schwer leiden, ist die Frage nach dem Sinn einer Depression eine Provokation. Zum anderen: Depressive Menschen leiden nicht nur an ihrem Zustand, sondern auch daran, wie sie ihre depressive Erstarrung beurteilen und wie die Umwelt ihren Zustand einschätzt. Deshalb macht es einen Unterschied, ob eine Depression nur negativ als Störung bewertet wird, oder ob sie umgekehrt potentiell auch Sinn machen kann. Viele depressive Menschen fühlen sich nicht nur durch die Depression blockiert, sondern sie fühlen sich darüber hinaus auch verurteilt, dass sie mit einer Depression zu kämpfen haben. Sie wehren sich gegen die depressive Erstarrung, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Je mehr sie sich aber innerlich aufbäumen und sich gegen ihre Kraftlosigkeit zur Wehr setzen, desto stärker leiden sie an ihrem Zustand.

Als sensible Menschen nehmen Depressive die (vor allem früher vorhandene) gesellschaftliche Stigmatisierung psychischer Probleme noch stärker wahr, als sie heute allenfalls vorhanden ist. Sie empfinden sich als Versager, die die geforderte Leistung nicht erbringen. Dabei spielt die negative Bewertung der Depression, wie sie sich geschichtlich durch die Jahrhunderte weit zurückverfolgen lässt, eine Rolle. Die wenig verständnisvolle Einstellung depressiven Menschen gegenüber hat auch damit zu tun, dass depressives Erleben historisch vor allem als Störung - als Defizit - beurteilt wurde. Im Mittelalter wurde die Depression - oder Akedia, wie eine damals vorkommende depressive Leidensform genannt wurde - sogar als Todsünde diffamiert.

Aber auch heute noch werden depressive Menschen auf verstecktere Weise, selbst in Psychologie und Psychiatrie, allzu häufig abgewertet. So vermutet man bei Depressiven vorschnell abhängige oder unreife Persönlichkeiten. Man liest zum Beispiel bei Rado (1968), dass depressive Menschen "an ihren Objekten (sprich Partnern) wie Blutsauger kleben und sie aussaugen, als wollten sie sie völlig verschlingen". Oder man verbindet Depressionen mit biologischen Defekten und sieht in depressiven Menschen Personen, die genetisch falsch programmiert sind oder eine durch Psychopharmaka zu kompensierende Stoffwechselstörung aufweisen. Peter D. Cramer geht in seinem amerikanischen Bestseller "Listening to Prozac" noch einen Schritt weiter und reduziert nicht nur den depressiven Zustand, sondern die ganze Lebensweise von Menschen, die mit Depression kämpfen, auf eine Serotoninstoffwechselstörung. Selbst die Lustlosigkeit von Romanfiguren, wie etwa von Camus' Fremdem oder Goethes Werther, werden von Cramer auf eine Serotoninstörung zurückgeführt.

Gegen diese abwertende Einstellung, die zu depressivem Leiden noch soziale Abwertung fügt, haben immer wieder Denker (wie Sören Kierkegaard oder Arthur Schopenhauer etc.) und Dichter (wie Reinhold Schneider oder Blaise Pascal) ihre Stimme erhoben. Am berühmtesten ist die Aristoteles zugeschriebene Aussage, die aber von Theophrast stammt, geworden: "Warum erweisen sich alle aussergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder den Künsten als Melancholiker - und zwar ein Teil von ihnen so, dass sie sogar von krankhaften Erscheinungen ergriffen werden". Melancholie ( - als griechische Bezeichnung für eine besondere Depressionsform - ) wurde in der Schule des griechischen Philosophen Aristoteles nicht mehr als Fluch betrachtet, sondern als Auszeichnung. Auch christliche Mystiker - wie Johannes vom Kreuz - haben später vereinzelt depressiv anmutende Zustände, die sie als "dunkle Nacht" beschrieben, als Durchgangsstadium zur unio mystica, zur mystischen Einheit und Erkenntnis beschrieben. Sie haben übrigens die Depression keineswegs idealisiert, sondern sie im Gegenteil als etwas äusserst bitteres dargestellt. Aber diese Mystiker haben auch versucht, die Depression nicht nur aus dem Moment heraus negativ zu werten, sondern sie in einen grösseren Zusammenhang zu stellen und als Strecke zu einem Ziel zu betrachten: als Tunnel, der zum Licht führt.

Persönliche Erfahrungen von Depressiven
Eine ähnliche Einschätzung habe ich auch bei vielen, überhaupt nicht mystisch eingestellten Patientinnen und Patienten angetroffen. Manche berichteten mir, wie die Depression sie verändert habe. Für die einen war eine Depression Anlass, die bisherige Lebenshaltung zu überdenken. Andere erzählten mir, dass die Depressionszeit, von der auch ihr Partner mitbetroffen war, zu einer Stärkung ihrer Paarbeziehung geführt oder wie ein Härtetest für ihre Ehe gewirkt habe. Ein älterer akademischer Lehrer hat mir kürzlich eindrücklich dargelegt, dass er durch die Depression hindurch zur Erfahrung und zur Einsicht gekommen sei, dass ihn letztlich auch vom nächststehenden Menschen etwas trenne. Er hatte vor der Depression zur grösstmöglichen Übereinstimmung mit seiner Frau tendiert. Es sei ihm klar geworden, dass ihn seine Nächsten im tiefsten depressiven Erleben nicht verstehen könnten. Was er in tiefster Nacht durchgemacht habe, gehöre ihm ganz allein. Die Depression verhalf ihm, nach seinen eigenen Worten, zu einer Art "Individuation", also zur Entdeckung seines eigenen, auch Schattenseiten enthaltenden Selbst. Eine solche Entwicklung ist keineswegs die Regel, aber eine seltene Möglichkeit.

Depressive Menschen haben mich auch darauf aufmerksam gemacht, dass das Auftreten erster Symptome einer depressiven Verstimmung als Warnsignal verstanden werden kann. So berichtete mir eine Medizinerin, die schon mehrere Depressionen durchgemacht hat, dass sie erste Anzeichen einer Depression - etwa frühes Erwachen, Antriebsarmut und eine leichte Konzentrationseinbusse - als Zeichen interpretiere, dass sie sich derzeit wieder mit Verpflichtungen übernehme. Sie frage sich dann, womit sie sich belaste. Sie mache oft die Erfahrung, dass sie sich in solchen Momenten allzu ehrgeizig auf ihre Pläne oder Aufgaben ausrichte und sie versuche dann bewusst "einen Gang zurückzuschalten". Bisher hätte dieses Vorgehen bei ihr weitere schwerere depressive Dekompensationen verhindert. Vielen anderen Menschen, die mit Depressionen kämpfen, ist ebenfalls bewusst, dass ein enger Zusammenhang zwischen Selbstüberforderung und Depression besteht. So sagte mir eine depressive Frau: "Wenn ich nur verzichten könnte! Aber mein Wille wird mir zum Problem. Ich habe Depressionen immer nur dann bekommen, wenn ich mich überfordert habe."

Interessanterweise machen neuerdings vor allem Therapeutinnen und Autorinnen auf die Möglichkeit aufmerksam, dass eine Depression im günstigen Falle Ausgangspunkt für neue persönliche Entwicklungen sein kann. So schreibt die amerikanische Psychologin Ellen McGrath unter dem vielsagenden Titel "Wenn es gut ist, sich schlecht zu fühlen". (Zitat) "Für mich führte der Prozess, (psychischen) Schmerz zuzulassen und darauf zu antworten, schliesslich zu einer Befreiung von depressiven Gefühlen, die ich nie für möglich gehalten hätte." Und sie fährt fort: "Es gibt Zeiten, in denen es vollkommen gesund und normal ist, depressiv zu sein, speziell für Frauen in unserer Kultur." (Zitat Ende) Entsprechend hat Ellen McGrath den Begriff einer "gesunden Depression" entwickelt, die sie von "ungesunden und behandlungsbedürftigen Depressionen" abgrenzt. Ähnlich unterscheidet auch die Psychoanalytikerin Emmy Gut zwischen "produktiven" und "unproduktiven" Depressionen. Unterstützt von John Bowlby, einem der herausragendsten Psychiater der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, sieht Emmy Gut in der Depression einen vitalen Prozess am Werk, der entweder nützlich oder schädlich sein könne. Sie ist der Auffassung, dass im depressiven Zustand ein Scheitern oder eine Verlustsituation verarbeitet werden könne, indem die Depression zur Ruhe zwinge und gleichzeitig die Möglichkeit gebe, abzuwarten, was aus dem Unbewussten hochsteige. Wo dem Betreffenden aber eine produktive Depressionsarbeit misslinge, stünde die Gefahr einer unproduktiven Depression im Raum.

In manchen Autobiographien, gerade auch von Künstlern, findet sich die analoge Erfahrung wiedergegeben, dass in depressiven Zeiten Altes zurückgelassen wird und dadurch neue Wege beschritten werden können. Der Schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl findet dafür ein einprägsames Bild: "Zu Zeiten muss jeder den Schritt über jenen Ort hin tun, wo alles momentweise in Frage gestellt ist (was der Grund ist all unserer Depression), den Schritt über Abgrundstege des Gebirges. Das Neue ist noch nicht, das Alte ist nicht mehr; über eine Kluft zwischen zwei Felswänden gehst Du, fest war der Fels hinter Dir und sicher wird einmal der neue sein, aber nun ist unter Deinen Füssen die Leere." Ludwig Hohl geht sogar soweit, zu postulieren, dass Depressivität ein obligater Begleiter des Schöpferischen sei, zwar nicht als Quelle des Neuen, aber als Durchgangstadium bei Grenzüberschreitungen, die Altes zurücklassen und Neues ermöglichen. Er sieht im depressiven Zustand günstigenfalls eine Brückenfunktion, die dazu verhilft, eine gefährlich wirkende Leere erstarrend auszuhalten, so dass ein Übergang von einer zurückgelassenen zu einer neuen Lebensbasis möglich wird.

Was ich bisher dargelegt habe, sind persönliche Meinungen und Erfahrungen. Lassen sich aber auch theoretische Überlegungen und empirische Untersuchungen anführen, die die Sinnfrage stützen?

Ein organismisches Modell
Ich habe in meinem Buch "Welchen Sinn macht Depression?" versucht, Argumente dafür zusammenzustellen, dass die Depression als grundlegende menschliche Möglichkeit verstanden werden kann, auf überwältigende Not schutzsuchend zu reagieren. In der Evolutionsgeschichte hat sich die depressive Reaktionsform durchgesetzt, als sich die Menschen vermehrt in immer komplexer werdenden kulturellen und sozialen Verbänden zusammenschlossen. Heute kann man davon ausgehen, dass praktisch alle Menschen aufgrund einer angeborenen Verhaltensmöglichkeit depressionsfähig sind, d.h. dass jeder Mensch eine Depression entwickeln kann. Nicht jeder Mensch hat aber das gleiche Risiko, depressiv zu werden. Die Auslösung einer Depression hängt von seinen Lebensumständen und von seiner biographisch und genetisch bedingten Disposition ab.

Neben evolutionären Überlegungen weisen auch biologische und soziale Befunde darauf hin, dass das bio-soziale Grundmuster der Depression eine Art 'vita minima', einen energetischen Sparzustand, darstellt, in dem viele vitale Prozesse eines Menschen gebremst ablaufen. So sind mentale Abläufe (z.B. Denken, Erinnern) gehemmt, Bewegungsabläufe sind verlangsamt sowie viele weitere psychobiologische Funktionen. Das bio-soziale Grundmuster führt zu einer Ruhigstellung des ganzen Menschen und damit zu einem sehr kräfteschonenden und vorsichtigen Verhalten. Auch wenn für Betroffene die Logik dieser Erstarrung meist nicht einsehbar ist, weil sie ohne ihr Zutun auf organismischer Grundlage - gewissenmassen als Einschaltung eines bio-sozialen Verhaltenssystems - erfolgt, kann dieses Reaktionsmuster durchaus eine Schutzfunktion haben. Oder in den Worten Nitzsches: "Weil man zu schnell sich verbrauchen würde, wenn man überhaupt reagiert, reagiert man gar nicht mehr ... Lebenserhaltend unter den lebensgefährlichsten Umständen ist die Herabsetzung des Stoffwechsels ... eine Art ... Winterschlaf."

Bestimmte Aspekte dieses bio-sozialen Grundmusters der Depression sind auch im Tierreich beobachtbar. So verhalten sich höhere Tiere in aussichtsloser Situation - z.B. Jungtiere bei Trennung von ihrer Mutter oder der Herde - ähnlich wie depressive Menschen. Sie erstarren und zeigen biochemische Veränderungen, die in gleicher Weise bei depressiven Menschen gefunden werden. Dabei handelt es sich etwa um hormonelle Umstellungen (z.B. ein Anstieg von Cortisol) wie auch um depressionstypische Veränderungen von Hirnstrommustern als Zeichen einer veränderten Aktivität bestimmter Hirnzentren (bei Primaten).

Eine solche Beschreibung des bio-sozialen Grundmusters einer Depression lässt die Wertung des Geschehens offen. Sie geht nicht von der Vorstellung aus, dass depressive Menschen an einem Defizit leiden, sondern von einer grundlegenden und allgemeinmenschlichen, wenn auch bei den einzelnen Menschen unterschiedlich ausgeprägten Disposition, unter bestimmten Umständen depressiv reagieren zu können.

Warum ist mir diese Feststellung wichtig? Weil ich das bio-soziale Grundmuster der Depression, wie es auch im Tierreich teilweise zu beobachten ist, nicht für das Ganze der menschlichen Depression halte und es mir entscheidend scheint, wie das der Depression zugrundeliegende Geschehen von einem betroffenen Menschen bewertet wird. Dabei wird diese Wertung immer von den kulturellen und wissenschaftlichen Strömungen einer Zeit beeinflusst sein.

Die Grundfrage an ein wissenschaftliches Modell der Depression ist eine erkenntnistheoretische. Bildet das Modell die Wirklichkeit ab? Wird das subjektive innere Erleben, die Selbstwahrnehmung der betroffenen Menschen, genau so erst genommen wie die objektiven körperlichen und zwischenmenschlichen Veränderungen, die mit einer Depression einhergehen.

In der modernen biologischen Psychiatrie wird versucht, den Zusammenhänge zwischen mind and brain, zwischen Geist und Gehirn, zwischen dem Erleben und Verhalten eines Menschen als Subjekt und den Vorgängen im zentralen Nervensystem des Objektes Mensch nachzuspüren. In der Regel werden diese Zusammenhänge einseitig im Sinne einer Einbahnstrasse interpretiert. Das Gehirn bestimmt den Geist. So wird beispielsweise aus Veränderungen bestimmter Hirnaktivitäten im Zustand der Depression auf eine pathologische Funktion dieser Hirnareale als Ursache depressiven Geschehens geschlossen.

Das Erleben der Depression und insbesondere die Deutung des objektivierbaren bio-sozialen Grundmusters durch den betroffenen Menschen wird damit aber weder vollständig abgebildet noch gar verständlich erklärt. Vielmehr wird die persönliche Stellungnahme des betroffenen Subjektes zu einer objektivierbaren Veränderung übergangen und als unbedeutende Nebenerscheinung beurteilt.

Persönlich bin ich der Überzeugung, dass bei psychischen Leiden wie der Depression die Bewertung bzw. die subjektive Sinngebung des eingetretenen Zustandes ebenfalls von ausschlaggebender Bedeutung für die Krankheitsentwicklung und deren Bewältigung ist. So hat man in Verlaufsuntersuchungen nachweisen können, dass die Depressionsprognose mit der Beurteilung der Depression durch die Betroffenen im Zusammenhang steht. Ungünstige Depressionsverläufe gehen sehr häufig mit der Überzeugung einher, das depressive Geschehen sei destruktiv, irreversibel und durch die Betroffenen völlig unbeeinflussbar. Umgekehrt ist die Bewertung der Depression als vorübergehende Blockade, die indirekt über therapeutische und Selbsthilfemassnahmen beeinflussbar ist, mit einer günstigen Prognose korreliert. Selbstverständlich ist bei solchen statischen Zusammenhängen auch zu berücksichtigen, dass die Schwere eines Krankheitszustandes die Bewertung der Problematik beeinflusst. Es ist sehr wohl verständlich, dass schwerer Depressive dazu neigen, die Erkrankung eher ungünstig zu sehen - und sich damit auch vor überhöhten eigenen und fremden Erwartungen schützen. Es muss sich dahinter kein falsches Denken verstecken, wie überhaupt vor Pathologisierungen und Abwertungen der Selbstwahrnehmung depressiver Menschen zu warnen ist.

Was ich hier ansprechen will, ist etwas anderes: Es geht mir darum, die Bedeutung der Sinngebung durch einen betroffenen Menschen hervorzuheben, da es mir nicht möglich scheint, dass sich Menschen der Wertung einer aufgetretenen depressiven Blockade entziehen können.

Das bio-soziale Grundmuster der Depression ist schwer zu ertragen, weil die davon betroffenen Menschen ihren Zustand wach und klar beobachten. Arthur Schopenhauer, der selber schwermütig war, sieht die Problematik von depressiven Menschen gerade darin, dass sie ihr Leiden umso klarer und schmerzhafter wahrnehmen, je wacher ihr Bewusstsein sei. Vielen Depressiven macht vor allem zu schaffen, dass sie im Zustand der Depression bei erhaltenem Bewusstsein, nicht mehr fühlen können, was ihnen vorher selbstverständlich war. Sie empfinden sich in ihren menschlichen Möglichkeiten beschränkt und von der Zukunft wie abgeschnitten.

Es ist müssig zu fragen, ob es eine Depression ohne bewusstes Erleben überhaupt geben kann. Zum einen basiert die Diagnose der Depression auf den selbstempfundenen und selbst wahrgenommenen Veränderungen des Empfindens, Denkens und Fühlens. Zum andern wäre ein Mensch, der in seinem Wachzustand an einer Depression leidet, im bewusstlosen Zustand gerade von seiner Depression befreit, selbst wenn er weiterhin die körperlichen Veränderungen aufwiese, die sich bei depressiven Menschen finden lassen.

Derzeit betont die Psychiatrie das Defizitäre und Destruktive des depressiven Leidens, ohne zwischen biologischer Blockade und psychologischem Erleben und Bewerten zu differenzieren. Sie geht dabei von schweren Depressionszuständen aus, bei denen in der Tat die depressive Entwicklung oft bereits so weit fortgeschritten ist, dass die depressive Botschaft nurmehr als Vorwurf verstanden werden kann und eigene Bewältungsmöglichkeiten äusserst eingeschränkt sind. Solche tiefen Depressionen machen es auch fast unmöglich, die biologische von der psychologischen Dimension zu trennen, weil die einzelnen Einflussfaktoren sich zu einer schwer fassbaren Konstellation ineinander verzahnt haben.

Psychosoziales Grundmuster ohne Depression
Dennoch gibt es gute Gründe, das bio-soziale Grundmuster nicht mit einer eigentlichen Depression gleichzusetzen. So kennt die Psychiatrie schon lange Zustände, die sie als 'depressio sine depressione' bezeichnet, frei übersetzt als depressionsähnliche Blockadezustände ohne depressives Leiden. Eine Patientin hat mich kürzlich mit der Mitteilung überrascht, dass sie in den letzten Wochen zwar anhaltend blockiert gewesen sei, aber nur tageweise an einer Depression gelitten habe. Sie unterschied spontan einen Zustand des Initierungsverlustes, der psycho-sozialen Blockade, von einem depressiven Leidenszustand, der für sie nur zeitweise zur anhaltend erlebten Blockade hinzukam. Nach meiner Überzeugung ist diese Differenzierung nicht nur akademisch, sondern essentiell.

Im Falle der zitierten Patientin war es in der Folge möglich, ihre Bewertung der Blockade genauer zu studieren. Sie hatte eine äusserst schwere depressive Episode von mehrjähriger Dauer durchgemacht. Während der ganzen Depressionszeit ging sie davon aus, dass sie an einer Stoffwechselstörung leide, die nur durch äussere Eingriffe zu durchbrechen sei. Als hochdosierte medikamentöse und andere Therapien keine Linderung brachten, war die Patientin umsomehr überzeugt, dass sie an einer unheilbaren, irreversiblen und destruktiven Krankheit leide. Sie unternahm zwei schwerste Suizidversuche.

Im Rahmen einer stationären Therapie konnte die Patientin zuerst von inneren und äusseren Anforderungen entlastet werden. Im Rahmen der Klinik lebte sie in einem Schonraum, der ihr nicht täglich die häuslichen Verpflichtungen und die Ansprüche von Angehörigen vor Augen führte. Die Anwendung einer Infusionstherapie, d.h. die Applikation einer antidepressiven Medikamentes per Tropfinfusion, erweiterte diesen Schonraum, indem ihr diese Therapie das Recht gab, ohne Selbstvorwürfe auch tagsüber stundenweise untätig zu sein. In der Folge wurde die Patientin schrittweise zu umschriebenen und zeitlich begrenzten Tätigkeiten und Beschäftigungen ermutigt. Dabei konnte sie erfahren, dass sie - entgegen ihrer Selbsteinschätzung - trotz depressiver Blockade noch zu bestimmten Leistungen fähig war. Diese Erfahrung wurde geduldig gestützt, und durch weitere kleine Aufgaben gefördert. Als sich die Patientin nach mehreren Wochen stundenweise etwas besser fühlte, wurde versucht in diesen Aufhellungszeiten über die Bedeutung zu sprechen, die sie der depressiven Blockade zumass. Es zeigte sich, dass die Patientin mit der Blockade schwerwiegende Zukunftsängste verband. Insbesondere befürchtete sie den Verlust ihres Mannes und ihrer Kinder. Gleichzeitig erlebte sie sich durch die Blockade gegenüber ihren Mitmenschen zurückgesetzt, ja wertlos. Nach und nach berichtete sie allerdings auch davon, dass es eigentlich ganz erstaunlich sei, was sie in den letzten Jahren durchgestanden habe. Sie könnte darauf im Grunde genommen auch stolz sein. Schliesslich stellte sie fest, die Depression habe ihr Wertsystem verändert. Ihr äusseres Erfolgsstreben sei an der depressiven Blockade gebrochen. Sie beurteile die Mitmenschen, aber auch sich selber, heute weniger nach dem Erfolg, als nach ihrer menschlichen Reife. Schliesslich meinte sie überraschend, mit der anhaltenden Blockade könnte sie - wenn auch mit Mühe - auf Sparflamme leben. Wenn nur die Selbstverachtung und der damit zusammenhängende psychische Schmerz nicht erneut auftreten würden. Damit war es ihr möglich, zwischen Selbstinfragestellung einerseits und depressiver Blockade andererseits klarer zu trennen und ihre Selbstwertproblematik nicht mehr durchgehend mit der bio-sozialen Blockade zu verbinden. Das blockierende bio-soziale Grundmuster wurde für sie zu einem körperlichen Zustand, mit dem sie sich nicht mehr voll identifizierte. Indem sie die depressive Hemmung als etwas Vorhandenes und Begrenzendes, aber nicht mehr als das ihr Eigentliche und sie Bestimmende betrachtete, verlor es an Macht über sie. Die Patientin konnte nun vermehrt, um eine Novaliswort zu brauchen, 'gegenexperimentieren'. Sie war bereit zu prüfen, was sie mir ihren eingeschränkten Möglichkeiten noch unternehmen und durchführen konnte. Sie verstand sich nicht mehr nur als Kranke, sondern vermehrt als Mensch mit einer definierten Begrenzung. Damit aber war ein Teufelskreis durchbrochen, der sich nach meiner Erfahrung in der Depressionsentwicklung nahezu regelmässig beobachten lässt.

Teufelskreis der Depressionsentwicklung (Depression über die Depression)
Als Auslöser einer ersten depressiven Episode lassen sich sehr häufig nicht bewältigbare Stresssituationen nachweisen. Sei es ein Partnerverlust, der einen Menschen überwältigt, seien es anhaltende Belastungen in einer Beziehungen oder im Beruf, seien es innere Ängste oder Zwänge, die die Abwehrkräfte eines Menschen erschöpfen. Solche nicht bewältigbaren Stresssituationen gehen mit einer körperlichen Umstellung einher, wie ich sie als biosoziales Grundmuster der Depression beschrieben habe. Diese körperlichen Veränderungen führen zu einem Abbremsen vieler mentaler, psychomotorischer und vegetativer Vorgänge, so dass ein betroffener Mensch verlangsamt ist und sich in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt fühlt. Sehr häufig verbindet sich nun - wie bei der zitierten Patientin - das Auftreten eines solchen bio-sozialen Grundmusters mit einer psychologischen Gegenwehr. Insbesondere Menschen, die sich selber wenig zutrauen oder ihr Selbstwertgefühl in ausgeprägter Weise auf Tüchtigkeit, Gewissenhaftigkeit oder äussere Anerkennung abstützen, fühlen sich durch die aufgetretene bio-soziale Blockade in Frage gestellt. Konsequenterweise versuchen sie alles, um diese Blockade zu überwinden. Leider vermögen sie aber in der Regel die gezogene Notbremse des Körpers nicht zu überwinden. Ihre Gegenwehr führt zu neuen Enttäuschungen. Damit wird aber auch die Stressreaktion verstärkt, die der bio-sozialen Blockade zugrunde liegt. Es entwickelt sich gleichsam eine Depression über die Depression, ähnlich wie die Angst vor der Angst eine Angstreaktion vergrössern kann.

Indem es unserer zitierten Patientin gelang, dem bio-sozialen Grundmuster, dieser Initierungshemmung, eine neue Bewertung zu geben und sich deswegen nicht - oder nicht mehr so sehr - in Frage zustellen, vermied sie auch die weitere Verstärkung dieses regelkreisähnlichen Vorgangs. Sie stellte überrascht fest, dass die biosoziale Blockade nach und nach an Stärke verlor. Bis zum Wendepunkt dieser Entwicklung war die Patientin zuerst mit ihrer ganzen starken Persönlichkeit gegen die bio-soziale Blockade angerannt und hatte sich Enttäuschung um Enttäuschung eingehandelt. Auch als sie nicht mehr die Kraft gefunden hatte, sich willentlich zu wehren und nach aussen hin resigniert erschien, lehnte sie innerlich die Blockade verschämt ab. Konsequenterweise war es ihr auch lange Zeit nicht möglich, sich mit kleinen Aktivitäten zufriedenzugeben. Im Kampf gegen das depressive Grundmuster gab es für sie nur Sieg oder Niederlage, alles oder nichts.

Erst die Neubewertung des bio-sozialen Grundmusters trug - über eine Art Entkatastrophierung - zur Entspannung der Situation bei. Sie ermöglichte der Patientin auch eine produktivere und flexiblere Auseinandersetzung mit ihren verbliebenen Möglichkeiten. Indem sie die Blockade akzeptierte, vermochte sie auch zu prüfen, was trotz dieser aktuellen Behinderung für sie noch möglich und lebenswert war. Damit verlor die Depression ein Stück ihrer Allmacht. Aus der Herrscherin Depression, die die Patientin ganz in Beschlag nahm, wurde ein Zustand, an den sich die Patientin anzupassen versuchte, ohne sich dabei selber aufzugeben. Nicht die Krankheit, sondern sie selber entschied nun über den Sinn ihres Handelns.

Man könnte auch sagen: Aus einem kranken Menschen wurde ein Mensch mit einer Krankheit.

Das gewählte Beispiel zeigt allerdings auch auf, dass eine Neubewertung des bio-sozialen Grundmusters, das der Depression zugrunde liegt, oft eines langen schmerzhaften Prozesses sowie günstiger Umstände bedarf. Eine solche Neubewertung kann weder erzwungen noch herbeigeredet werden. Wo aber im Umfeld von Betroffenen eine globale Pathologisierung und Stigmatisierung des depressiven Geschehens vorherrscht und wo sozialdarwinistisch geprägte Wertevorstellungen einer Leistungsgesellschaft die Akzeptanz einer depressiven Blockade erschweren, sind die Bedingungen für eine schrittweise Annäherung an die depressive Dynamik für die Betroffenen ungünstig.

Was Depressive brauchen ist weder Belehrung noch Vertröstung, weder Aufmunterung noch Kritik. Ratschläge sind meistens Schläge. Depressive brauchen Verständnis, Anerkennung und Hoffnung. Sie benötigen Verständnis für ihre Situation, Anerkennung in ihrem Ringen und Hoffnung auf ein Leben ohne Depression. Selbstverständlich benötigen schwerer Depressive in der Regel auch eine gezielte medizinische Therapie.

Depressive sehnen sich nach einer mitmenschlichen Begleitung. Viele wünschen sich Geborgenheit und dass man an sie glaubt. Sie unterscheiden sich darin nicht von andern Menschen, ausser dass sie aus ihrer Situation heraus besonders viel Glauben, Hoffnung und Liebe benötigen.

Die Hauptschwierigkeit im Zusammenleben mit Depressiven liegt darin, dass letztere den Glauben an sich selbst verloren haben, dass sie hoffnungslos sind und dass sie ihre Liebe weder andern zeigen, noch selber fühlen können. So wird das Begleiten von Depressiven über lange Strecken zur Einbahnstrasse. Es löst Ärger, Enttäuschung und Hilflosigkeit aus. Es trübt die Stimmung und führt zur defensiven Selbstrechtfertigung und Kritik an andern. Auch diese Herausforderung gehört zur Depression.

Depressive befinden sich nicht nur selber in einer Grenz- und Übergangssituation. Sie vermitteln auch andern ihre Hilfs- und Hoffnungslosigkeit. Sie führen auch andere an ihre Grenzen.

Wo liegt da der Sinn? Es gibt keinen Sinn ausser jenem, den wir uns selbst zulegen. Nicht der psychische Schmerz adelt uns, wir adeln den psychischen Schmerz. Voraussetzung dazu ist allerdings, dass wir uns durch das Leiden nicht anhaltend in Frage stellen lassen. "Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie". Wer hingegen psychischen Schmerz in keinem Zusammenhang mit dem Lebensganzen sieht, gleicht dem Gefangenen, der nur die behindernde Zelle wahrnimmt. Sinngebung setzt das Annehmen einer Situation voraus. Nur wer annimmt - und nicht einfach resignierend hinnimmt - kann nach einem sinnmachenden Verständnis suchen. Der Sinn kann in einem Dennoch, in einer Wertvorstellung, in einer getroffenen Wahl liegen. Der Sinn kann für einen Angehörigen auch in der Überzeugung begründet sein, dass einem notleidenden Partner zu helfen ist.

"Lerne, mit dem Schmerz zu denken"
Lerne mit dem Schmerz zu denken. Diese parodox erscheinenden Worte finden sich in einem Buch von Maurice Blanchot zum Holocaust. Der psychische Schmerz der Depression kann grausam sein. Er geht mit einer Blockade einher, die den Fluss des Denkens und die Entschlussfähigkeit beeinträchtigt. Trotzdem ist der Satz Blanchot's "Lerne, mit dem Schmerz zu denken" oft das Einzige, was Depressiven und ihren Mitbetroffenen noch offen bleibt. Wenn kämpferische Abwehr ebenso wie resignierte Hinnahme an der Fortdauer des depressiven Schmerzes gescheitert sind, kann nur noch entlang des psychischen Schmerzes und unter Anerkennung der depressiven Blockade weiter gedacht und weiter gelebt werden. Dann kann es gelingen, dass aus der unsäglichen Schwere und aus der dunklen unfassbaren Masse, die einen depressiven Menschen niederdrückt, eine Gestalt mit einer wahrnehmbaren Konfiguation, mit einem Gesicht, wird, das man erfassen und als eigenes Gegenüber verstehen lernen kann. In diesem Sinne hat das schöne, C.G.Jung zugeschriebene Wort eine gewisse Berechtigung: "Die Depression ist gleich einer Dame in schwarz. Tritt sie auf, so weise sie nicht weg, sondern bitte sie als Gast zu Tisch und höre, was sie zu sagen hat."

Aber nicht nur die von Depressionen Betroffenen und Mitbetroffenen müssen oft mühsam lernen, mit dem psychischen Schmerz und nicht gegen ihn zu denken. Wir alle haben uns damit auseinander zu setzen, welche Bedeutung wir der Depression zuordnen. Trotz aller Abwehrversuche, trotz Verleugnung und Wegschauen, trotz aller wissenschaftlicher Fortschritte und trotz immer selektiver wirkender Medikamente scheinen depressive Leidensformen heute häufiger - und vermehrt chronisch - zu werden. Alles weist darauf hin, dass der technokratisch eingeschlagene Weg der Depressionsisolierung und -bekämpfung im Sinne eines ausschliesslich organischen Krankheitsverständnisses nicht genügt, der Depression gerecht zu werden. Wir haben wohl keine andere Wahl: wir können das depressive Geschehen nicht aus der kulturellen Bewertung und aus sozialen Zusammenhängen herauslösen. Wie ein Magnet zieht jede ungelöste Zwangslage depressives Leiden an. Jede Depression hat eine zwischenmenschliche und soziale Dimension. Was unsere Zeit, was wir von Depressionen denken und halten, fliesst unbesehen ins depressive Geschehen ein, bis zu dem Punkt, dass Menschen sich lieber eine Treppe hinunterstürzen, um sich Frakturen zuzuziehen, als dass sie sich zu ihrer Depression bekennen. Es liegt letztlich an uns allen, zu verhindern, dass aus vorübergehenden Blockaden ein Nährboden für anhaltende Scham- und Schuldgefühle entsteht. Es liegt an uns, die Depression menschlicher zu machen und Entwicklungen zu vermeiden, die dazu beitragen, dass Menschen bei Auftreten von depressiven Blockaden infolge gesellschaftlicher Stigmatisierung schwerer leiden, als durch die depressive Blockade allein.


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